von Willimox » Sa 10. Apr 2010, 12:16
Plagemann, Broiler, Puella
Warum ich nie Latein gelernt habe
Dankrede für den Humanismuspreis der deutschen Altphilologen / Von Monika Maron
Aus Gründen, die ich erst viel später verstand, verschlug es mich auf die einzige Oberschule Ost-Berlins, wenn nicht der ganzen DDR, die noch Gymnasium hieß, nämlich „Berlinisches Gymnasium zum Grauen Klosterâ€. Das fand ich zwar interessant, aber auch ein bisschen lächerlich. Die Ermahnungen älterer Lehrer, der Tradition unserer ehrwürdigen Schule den gebührenden Respekt zu erweisen, wirkten auf mich komisch, rührend auch, und als wir zum 1. Mai 1958 mit Schulemblem und Schulfarben für die Sportlerriege marschierten, wusste ich nicht genau, ob ich das Traditions-Getue eher peinlich oder vielleicht doch reizvoll finden sollte.
Mein Bekenntnis zum Gymnasium und zur Tradition meiner Schule setzte erst am Nachmittag dieses 1. Mai 1958 ein. Meine Eltern saßen mit einigen Freunden, darunter ein Polizeipräsident, in unserem Wohnzimmer und bestürmten mich in ihrer Feiertagslaune mit Fragen nach meiner Schule. Sie hatten von ihrer Tribüne tatsächlich unser Emblem gesehen, und obwohl meine Eltern ja auch vorher wissen mussten, wie meine Schule heißt, waren sie plötzlich aufgebracht und entschlossen, diesen anachronistischen Unfug zu beenden. Ob die folgenden Ereignisse dann wirklich eintraten, weil unser Emblem meinen Stiefvater und seine Freunde an die Kränkungen ihrer Kindheit erinnert hat oder doch vor allem, weil sich eine Abiturklasse des altsprachlichen Zweigs geschlossen zum dreizehnten Schuljahr in West-Berlin angemeldet hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls wurde unsere Schule umbenannt in 2. Oberschule Mitte, wir bekamen einen neuen Direktor, der nicht einmal des Deutschen vollkommen mächtig war, geschweige denn des Griechischen oder Lateinischen, dafür aber verlangte, dass alle Schüler die nächsten zwei Wochen in FDJ-Blusen zu erscheinen hätten. Während ich noch zwei Jahre lang miterlebte, wie meiner Schule die Reste gymnasialen Geistes ausgetrieben wurden, gewann das Wort Gymnasium für mich einen verheißungsvollen Glanz, ähnlich solchen Worten wie Kammermusiksaal oder Handwerkerinnung oder Königlich-Preußische Porzellanmanufaktur.
Jedenfalls erzähle ich jetzt noch gerne, dass ich Schülerin des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster war, wenn ich auch nur zum R-Zweig (das heißt verstärkter Russischunterricht) gehörte und von dem Bildungsgut meiner Schule gar nicht profitieren konnte. Obwohl wir, die Schüler des R-Zweigs und somit Vertreter der lingua franca in einer sozialistischen Zukunft, eigentlich als Pioniere des Fortschritts an diesem Hort der bildungsbürgerlichen Reaktion gedacht waren, war in mir während der vier Jahre am Grauen Kloster außer der Sympathie für das Wort Gymnasium der Wunsch erwacht, selbst zu den Lateinern zu gehören. Die Lateiner, fand ich, waren das Höhere, das Bessere. In ihnen schien mir etwas fortzuleben, was wir nur aus Büchern kannten, eine Wissenstradition und ein Bündnis mit der Menschengeschichte. Ich weiß nicht, ob ich das damals so gesagt hätte, wahrscheinlich nicht, aber gefühlt habe ich es so.
Kurz nach dem nach dem Abitur traf ich meinen ehemaligen Direktor im Pressecafé in der Friedrichstraße. Beide, der Direktor und das Pressecafé gehörten einer vergangenen Zeit an. Das Pressecafé war einem Wiener Caféhaus nachempfunden, ein großer Saal, möbliert mit Thonetgestühl, es gab Frühstücksgulasch für zwei Mark, und irgendeinen Bekannten traf man da immer, meistens mehrere, egal zu welcher Tageszeit. Das Pressecafé war ein subversiver Ort, der darum auch einige Zeit später zu einem Broiler-Restaurant und danach zu einem Lagerraum degradiert wurde.
Und manchmal traf ich da auch Herrn Plagemann, unseren ehemaligen Direktor, der aus unserer Schule verschwunden war, als man sie ihres schönen Namens beraubt hatte. Herr Plagemann war ein alter, in meinen Augen damals uralter Herr mit weißem Haar und einem gebeugten Rücken. Er unterrichtete Griechisch und Latein, darum kannte ich ihn nicht als Lehrer, nur als Direktor. Wenn unsere Klasse, die der ihr zugedachten Rolle an der Schule weder bewusst, noch für sie geeignet war, wenn wir uns also wieder einmal ungebührlich betragen hatten, ließ Herr Plagemann meistens mich rufen. Maron zum Direktor, rief die Sekretärin dann mitten im Unterricht in den Klassenraum. Und dann sagte Herr Plagemann zu mir, ich sei doch ein vernünftiges Mädchen, und was sei denn in meiner Klasse wieder los und ob ich nicht mal mit meinen Mitschülern reden könne; solche Sachen eben, die mich, wie ich zugeben muss, nicht unbeeindruckt ließen. Ich mochte Herrn Plagemann.
Als ich ihn wieder einmal im Pressecafé traf, sagte ich ihm, wie leid es mir tue, dass ich an der Schule nicht zu den Lateinern gehört hätte und ob er wisse, wie ich dieses Versäumnis korrigieren könne. Ich wolle unbedingt Latein lernen. Herr Plagemann sagte, er hätte jetzt Zeit, und Latein könne ich bei ihm lernen. Danach kam er einmal in der Woche in meine sehr provisorische Wohnung in der Saarbrücker Straße im Prenzlauer Berg und brachte mir Latein bei. Puella – puellae – puellae - puellam. Und jedes Mal hatte er zwei Flaschen süßen Krim-Wein in seiner Aktentasche, die wir während meiner Studien auch austranken. Vielleicht habe ich darum fast alles vergessen, was ich damals gelernt habe. Nur warum Herr Plagemann davon überzeugt war, dass die Römer unmusikalisch waren, habe ich mir gemerkt: Gallus cantat. Wer behauptet, dass der Hahn singt, sagte er, kann unmöglich musikalisch sein.
Als Herr Plagemann einmal keine Zeit oder auch nur vergessen hatte, den Wein zu besorgen, waren für mich die lateinischen Vokabeln und Deklinationen schon so von süßem Krimwein durchtränkt, dass ich nach einer Stunde allein von den lateinischen Wörtern berauscht war. Für einige Monate wurde ich also einmal wöchentlich im Lateinischen unterrichtet, bis Herr Plagemann eines Tages seine Arme um mich legte und sagte, ein Mädchen wie mich hätte er sich immer gewünscht, als er ein junger Mann war. Dabei sah er mich an, als wünsche er sich das Mädchen immer noch. Danach haben wir uns nicht mehr gesehen und ich habe nie Latein gelernt.
Das ist nicht die einzige Lücke in meiner Bildung geblieben, und ich gestehe, dass andere mich mehr schmerzen. Aber Latein war in meinen Bildungsbemühungen das erste Hindernis, das ich mit Bewusstsein nicht überwunden habe und ist mir zum Synonym für alle folgenden Versäumnisse geworden. Spuren meines Kummers darüber, mich aus der Kaste der Nicht-Lateiner nicht erhoben zu haben, konnte die Jury wohl in meinen Büchern finden. Umso mehr freut mich die Anerkennung der Lateiner, denen ich für diesen Preis herzlich danke.