Philosophia als Begriff in der frühen Neuzeit.

Diskussionen zu den antiken Philosophen, ihren Ideen und ihrer Rezeption

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Philosophia als Begriff in der frühen Neuzeit.

Beitragvon Laptop » Mi 31. Jul 2013, 12:27

Salvete! In einem Werk aus dem Jahre 1515 bin ich über den Begriff philosophia erstaunt, so findet sich dort eine Einteilung der Philosophie in Metaphysik, Physik, Quadrivium, Trivium, ja sogar Handwerke. Das heißt der Begriff umfaßt eigentlich mehr noch als unsere “Wissenschaft”, vielleicht mit “Kenntnis von der Welt” wiederzugeben. Wie beurteilt ihr diese Auffassung? Ist das die typische Verwendung von philosophia im Mittelalter?

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Re: Philosophia als Begriff in der frühen Neuzeit.

Beitragvon Laptop » Do 1. Aug 2013, 01:41

Hallo Longipes, der Titel lautet
Margarita Philoſophica noua
Cui annexa Å¿unt Å¿equentia.
Grecarum literarum inſtitutiones
Hebraicarum literarum rudimenta
Architecture rudimenta
Quadrantum varie compoſitiones.
Aſtrolabij noui geographici compoſitionem.
Foꝛmatio Toꝛqueti.
Foꝛmatio Polimetri
Vſus et vtilitas eoꝛundem omnium.
Figura quadrantis poligonalis
Quadratura circuli.
Cubatio Å¿phere.
Perſpectiue phiſice et poſitiue rudimenta.
Cartha vniuerſalis terre mariſque foꝛmam neoterica deſcriptione indicans.


Es gibt auch einen Wikipedia-Artikel zu dem Werk: http://de.wikipedia.org/wiki/Margarita_Philosophica
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Re: Was war Philosophie?

Beitragvon Prudentius » Do 1. Aug 2013, 10:05

Ist das die typische Verwendung von philosophia im Mittelalter?


Nicht nur, sondern auch in der ganzen Antike! Das Aufbauschema entspricht im Grunde dem platonischen Dialog Timaios, auch an aristotelische Schriften wird angespielt, z.B. "de generatione et corruptione". Die Antike hat Philosophie in einem ganz umfassenden Sinn verstanden, denke nur daran, dass für die Epikureer die Philosophie fast vollständig aus Physik (Atomenlehre) besteht.
Platons Timaios ist grundlegend gewesen und geblieben, er wurde bis ins MA. viel gelesen, gelangte aber nicht in den humanistischen Lesekanon, der ja geisteswissenschaftlich ausgerichtet war, so blieb der Tim. für die Moderne weitgehend unbekannt.
Diese Schwerpunktsetzung hat ganz grundsätzliche Bedeutung: Platons Erweckungserlebnis (wenn ich mal so sagen kann), seine urspr. Inspiration war die Einsicht in die Harmonie von drei Bereichen, der Mathematik, der Musiktheorie und der Kosmologie; die ersten vier Zahlen, 1, 2, 3, 4 bilden Proportionen, die den akustischen Tonintervallen entsprechen; 2/3 x 3/4 = 1/2; man entdeckte also, dass die Oktave das Produkt von Quarte und Quinte war; dass bei diesen Tonintervallen die Saitenlängen in einem solchen ganzzahligen Verhältnis standen.
Und dann meinte man auch, in den Kreisbahnen der Himmelskörper diese Proprtionen zu erkennen.
Diese Einsichten inspirierten Plato dazu, eine Gesamtkonzeption der Welt, vom Allgemeinen bis zu dem Einzelnen, zu entwickeln.
Bezeichnungen wie "Enzyklopädie" passen nicht so richtig, denn die besteht aus Sammlungen von Verschiedenem, während Platons Entwurf eindeutig auf die Einheit der Welt hinzielt; also so etwas wie Holismus.

Hallo Laptop, da hast du ja ein unermessliches Thema aufgerührt, aber ich mache jetzt erstmal Schluss :-D

Gruß P. :)
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Re: Philosophia als Begriff in der frühen Neuzeit.

Beitragvon Zythophilus » Do 1. Aug 2013, 10:25

philosophia hat hier die Bedeutung "Wissenschaft", und das, was man heute gemeinhin als "Philosophie" bezeichnet, ist nur ein Teil davon.
Auch der für das Mittelalter maßgebliche Isidor listet die physici in seiner Definition (Etym. II 24) - natürlich ist er nicht der Erfinder dieser Einteilung - auf. Interessant wäre es zu untersuchen, ab wann die Naturwissenschaft tatsächlich ausgeschlossen wurde, auch wenn sie vielleicht nominell noch als Teil der philosophia bezeichnet wurde, also ab wann man beim Begriff philosophi die physici nicht mehr wirklich im Blick hatte.
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Re: Philosophia als Begriff in der frühen Neuzeit.

Beitragvon colocynthis » Do 1. Aug 2013, 19:04

Salvete :)
Wie steht es mit der Teilung der philosophia in pars rationalis, naturalis und moralis (Seneca?)?
concordia parvae res crescunt, discordia maxumae dilabuntur.
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Re: Philosophia als Begriff in der frühen Neuzeit.

Beitragvon Laptop » Fr 2. Aug 2013, 07:17

Freue mich über eure Beiträge. Wir haben hier also den Vorgänger des (in diesem Sinne) unklass. Wortes “scientia”. Dazu drei Beobachtungen.

1) Wo findet unser moderner Begriff “Philosophie” in dieser Einteilung seine Entsprechung?
Wenn ich es richtig verstehe unter lat. metaphysica, dem Sammelbegriff für alles Übersinnliche,
der damals allein durch die Theologie besetzt war, wie ein dicker Bischof, der aufgrund seines Leibesumfangs zwei Stühle belegt, und keinen Kollegen neben sich Platz nehmen läßt.

2) Es fehlt die Poesie in dieser Einteilung, wo gehört sie hin?

3) logica wird nicht, wie wir es modern auffassen, zum Kreis der Mathematik gezählt wird, sondern zur Grammatik und Rhetorik. Lat. logica ist also nicht unsere “Logik”, sondern ein Synonym zu Dialektik, richtig?
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Re: Philosophia als Begriff in der frühen Neuzeit.

Beitragvon Prudentius » Fr 2. Aug 2013, 20:52

Wo findet unser moderner Begriff “Philosophie” in dieser Einteilung seine Entsprechung?


Schwer zu beantworten, die Philosophie muss sich ja in jeder Epoche neu erfinden, und in unserer hat sie sich wohl noch nicht erfunden; wie soll man sie da einordnen?

Wenn ich es richtig verstehe unter lat. metaphysica


Das gerade nicht, denn seit der Aufklärungsphilosophie, Positivismus, Empirismus, ist die Metaphysik aus der Philosophie eliminiert worden; man spricht ja von dem "nach-metaphysischen Zeitalter".

lat. metaphysica, dem Sammelbegriff für alles Übersinnliche, der damals allein durch die Theologie besetzt war, wie ein dicker Bischof, der aufgrund seines Leibesumfangs zwei Stühle belegt, und keinen Kollegen neben sich Platz nehmen läßt.


So kann man es auch wieder nicht sagen, die Phil. galt ja als "ancilla theologiae", als Magd musste sie bei guter Laune gehalten werden, um flink bedienen zu können. Sie galt als "praeambula fidei" und hatte einen gewissen Freiraum, es gab ernsthafte philosophische Debatten im MA, die Kirche beherrschte keineswegs das Feld, denke daran, selbst in der "Hochscholastik" musste sich ein Thomas von Aquin mit den islamischen Kritikern (wie Avicenna) herumschlagen, die in dem spanischen Khalifat saßen.

Die Kirche war in zwei wesentlichen Bereichen auf die Hilfe der Philosophie angewiesen: einmal nach außen, in der Auseinandersetzung mit Judentum und Islam in der Frage des Monotheismus (Trinität): wie kann der eine Gott einen göttlichen Sohn haben, und dann in den innerkirchlichen Streitigkeit um den Status Christi zwischen Gott und Mensch: wie sollte man sich beides in einem Lebewesen verbunden vorstellen?

logica wird nicht, wie wir es modern auffassen, zum Kreis der Mathematik gezählt wird


Das ist aber erst in jüngster Zeit so gekommen, vorher war es umgekehrt; ab 1900, verbunden mit den Namen Frege, Wittgenstein, Russell, "Wiener Kreis", gab es den "Linguistic/logical Turn", da wurde Philosophie auf Sprachanalyse reduziert, und nachdem sie damit nicht durchgekommen sind, haben sie die Logik dankend wieder an die Mathematiker zurückgegeben (:-D bei der großen Hitze kann man ja so formulieren).

Gruß P. :)
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