Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosophie

Das Forum für professionelle Gräzisten und Studenten der Griechischen Philologie

Moderatoren: Zythophilus, marcus03, Tiberis, ille ego qui, consus, e-latein: Team

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon Semperrogans » Sa 3. Nov 2012, 01:25

Ich kenne das Altgriechische nicht gut genug, um ein fundiertes Urteil abzugeben, aber in allen Sprachen, die ich bisher gelernt habe, konnte man folgende Konstruktion aus dem Englischen nicht wirklich nachmachen:
"Who are you to talk of trust?" (Satzakzent auf dem 'you')
Jaja, auch das Englische ist eine reiche Sprache. (Es gibt sogar einen NcI!)
Semperrogans
Civis
 
Beiträge: 28
Registriert: Di 30. Okt 2012, 21:57

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon consus » Sa 3. Nov 2012, 13:29

Na, wenigstens ein Übersetzungsversuch sei gewagt, der schon nahe an die englische Konstruktion heranreicht (allerdings vorausgesetzt, dass ich das Englische richtig verstanden habe - ich bin kein Anglist :oops: ):
Im NT-Römerbrief 14, 4 lesen wir: "Σὺ τίς εἶ ὁ κρίνων ἀλλότριον οἰκέτην;" Luther übersetzt: „Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest?“
Diese Formulierung könnte man sich nun zu Nutze machen:
Who are you to talk of trust? > Σὺ τίς εἶ ὁ λέγων περὶ πίστεως; (> Wer bist du, dass du von Vertrauen redest?). Im Griechischen also Partizip statt Infinitiv.
Die Stellung des Σὺ (you) am Anfang der Frage hebt Personalpronomen hervor.
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon Semperrogans » Sa 3. Nov 2012, 20:00

Ich kenne das Altgriechische nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob der altgriechische Satz genauso anklagend und emotional ist wie der englische; aber ich kann vom Deutschen sagen, dass man etwas ergänzen muss, um dem Satz gerecht zu werden.
z.B. "Wer bist du denn, dass du es wagst, von Vertrauen zu sprechen!"
Deswegen finde ich diese Konstruktion so interessant.
Semperrogans
Civis
 
Beiträge: 28
Registriert: Di 30. Okt 2012, 21:57

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon consus » Sa 3. Nov 2012, 20:18

M. E. ist der von mir im Anschluss an die paulinische Formulierung präsentierte griechische Satz "genauso anklagend und emotional … wie der englische"; denn im Kap. 9, Vers 20, des Römerbriefs findet sich das gleiche Satzmuster "Σὺ τίς εἶ ὁ" + Partizip: „…σὺ τίς εἶ ὁ ἀνταποκρινόμενος Ï„á¿· θεῷ;“ wieder übersetzt Luther die ganze Stelle mit den Worten: "Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst?" Der anklagende Charakter wird hier ganz deutlich.
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon Semperrogans » Sa 3. Nov 2012, 20:24

Entschuldigung, dann habe ich durch meine Unkenntnis unnötige Beiträge produziert.
Semperrogans
Civis
 
Beiträge: 28
Registriert: Di 30. Okt 2012, 21:57

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon consus » Sa 3. Nov 2012, 20:26

Semperrogans hat geschrieben:Entschuldigung, dann habe ich durch meine Unkenntnis unnötige Beiträge produziert.
Da ist doch keine Entschuldigung nötig!!!! Nichts ist hier "unnötig". War interessante Frage! :-D
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon Semperrogans » Sa 3. Nov 2012, 20:29

Was mich jetzt aber doch interessiert, ist, ob diese Konstruktion auch klassisch belegt ist.
Semperrogans
Civis
 
Beiträge: 28
Registriert: Di 30. Okt 2012, 21:57

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon consus » Sa 3. Nov 2012, 23:53

Vergleichbare Stelle z. B. bei Demosthenes in der Rede Ὑπὲρ τῆς Ῥοδίων Ἐλευθερίας, § 26:
"Oὐδεὶς ἐσθ' ὁ διδάξων ἐκείνους (der jene belehren kann)"*.
_____________________________________
*Bornemann-Risch § 149 (1) Anm. und § 242 (2).
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon Ioscius » Mo 5. Nov 2012, 01:14

Aus Interesse gefragt:

Wie kann denn dieses Satzglied im Deutschen bzw. Griechischen bestimmt werden?

Ist es im Deutschen ein attributiver-dass-Satz?

Ist es eine verkürzte kausale Ergänzung: [Ich frage], wer du bist, weil du einen Fremden richtest

Eine (pseudo)konsekutive Ergänzung?: Du bist ein derartiger, sodass du
Wobei das ja irgendwie nicht geht, weil wir ja eine Frage haben: "Wer bist du"..

Hmmmmmmmmm
Ioscius
Censor
 
Beiträge: 735
Registriert: Di 6. Feb 2007, 20:02

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon consus » Mo 5. Nov 2012, 14:32

XAIPE, yoshi. Die Erklärung ergibt sich doch aus den von mir oben zitierten §§ des Bornemann-Risch.
:book:
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon Semperrogans » Mo 5. Nov 2012, 17:53

Es ist schon eine Art konsekutiver Nebensatz.
Ich glaube man kann es im Deutschen gut als eine Verkürzung und Variante von soetwas verstehen:
"Bist du etwa so jemand, dass du wagen kannst, blablablup zu tun?"
Semperrogans
Civis
 
Beiträge: 28
Registriert: Di 30. Okt 2012, 21:57

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon consus » Mo 5. Nov 2012, 18:08

Semperrogans hat geschrieben:Es ist schon eine Art konsekutiver Nebensatz...
Im Griechischen ist das Partizip in den genannten Beispielen ein prädikativer Satzteil, dessen Sinn letztendlich aus dem Kontext zu erschließen ist.
Benutzeravatar
consus
Pater patriae
 
Beiträge: 14234
Registriert: Do 27. Jul 2006, 18:56
Wohnort: municipium cisrhenanum prope Geldubam situm

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon Semperrogans » Mo 5. Nov 2012, 20:11

consus hat geschrieben:
Semperrogans hat geschrieben:Es ist schon eine Art konsekutiver Nebensatz...
Im Griechischen ist das Partizip in den genannten Beispielen ein prädikativer Satzteil, dessen Sinn letztendlich aus dem Kontext zu erschließen ist.

Achso, weil die Frage auf beide Sprachen bezogen war, habe ich mich nur auf das Deutsche bezogen.
Semperrogans
Civis
 
Beiträge: 28
Registriert: Di 30. Okt 2012, 21:57

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon Semperrogans » Mi 7. Nov 2012, 13:36

Ich würde einfach sagen, dass die Frage, ob nun die Philosophie die Grammatik oder die Grammatik die Philosophie gezeitigt habe, falsch gestellt sind, weil sich sprachliche und ideologische Entwicklung (letzeres ganz neutral gemeint) nicht stark genug von einander trennen lassen, als das auf diese Frage, wenn sie so krass formuliert und nur zwei mögliche Antworten zu lässt, eine Antwort möglich wäre.

Ich würde zu bedenken geben, wie sehr Aristoteles seine Logik an die Form von Sätzen angelehnt hat, um nicht zu sagen, er habe sie allein auf der Analyse der Form von Sätzen unter Abstraktion der konkreten Inhalte gewisser Paradigmen aufgebaut.
Auch heute reden wir noch manchmal von Prädikat, sowohl in der Grammatik als auch in der Philosophie. In China gab es keine Kopula und es hat sich auch Logik entwickelt, die irgendwie auf Prädikaten basiert. (Also wenn ich richtig informiert bin, dann eben nur durch europäischen Einfluss relativ spät. Ich kann aber kein Chinesisch, kann also nicht sagen, wie genau Sätze mit Prädikatsnomen dort realisiert werden - ganz anders jedenfalls, wahrscheinlich macht auch der Begriff "Prädikatsnomen" im Chinesischen keinen Sinn, das könnte ich mir gut vorstellen.)

Die Sache mit dem Wahrheitskonzept der Unverborgenheit wurde ja schon angesprochen, ich wollte dazu als Vergleich noch erwähnen, dass das althebräische Wort, mit dem man das deutsche "wahr" übersetzen würde, die Grundbedeutung "zuverlässig" hat und in Bezug auf Handlungen so verwendet wird.
Leider weiß ich nicht mehr genau, wie es heißt, transkribiert glaub ich teme oder so.
(Tja, mein Hebräisch-Selbststudium hat quasi garnicht funktioniert, aber das fand ich so interessant, dass es hängen geblieben ist.)
Der späte Heidegger hätte wohl dazu gesagt, dass die Isrealiten nur einen Begriff für Richtigkeit hätten, die ja auch seit Platon im Abendland mit Wahrheit verwechselt werde, aber keinen für Wahrheit.

Wen das näher interessiert, dem würde ich die von Heidegger selbst zusammengestellte Aufsatzsammlung "Wegmarken" empfehlen, darin befinden sich nämlich insbesondere die Aufsätze "Vom Wesen der Wahrheit" und "Platons Lehre von der Wahrheit." In letzerem Text gibt Heidegger auch eine eigene, stellenweise kommentierte Übersetzung des Höhlengleichnisses!
Dazu gibt es noch zwei seiner wichtigsten Texte, die jetzt aber nicht in besonderem Maße mit dem Wahrheit zu tun haben, aber dafür einer zum Beispiel auch viel mit Sprache: "Was ist Metaphysik?" (mit nachträglichem Vor- und Nachwort.) und "Brief über den Humanismus"
Darüber hinaus gibt es auch noch einen Text über das Konzept der Physis bei Aristoteles.
Also für Philosophokailogoi (das war jetzt kein richtiges Kompositum, ich weiß schon) eine nähere Überlegung wert, würde ich sagen.
Semperrogans
Civis
 
Beiträge: 28
Registriert: Di 30. Okt 2012, 21:57

Re: Einfluss der altgriechischen Grammatik auf die Philosoph

Beitragvon RM » Mi 7. Nov 2012, 22:55

An sich ist weder die Logik noch die Wahrheit von Sprache abhängig, da man beide Konzepte, wenn es denn so wäre, gleich wieder entsorgen könnte.

8) RM
RM
Augustus
 
Beiträge: 4522
Registriert: So 22. Sep 2002, 22:08
Wohnort: Bayern

VorherigeNächste

Zurück zu Griechische Philologie



Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 26 Gäste