von Sokrates » Do 10. Feb 2022, 00:06
Für das D gilt:
In der Tat muss man bei Sätzen im Indikativ Perfekt eine Unterscheidung sowohl von Bezugssystemen der Zeitlichkeit des Vorgangs als auch der eigentlichen pragmatischen Funktion der Tempuswahl vornehmen.
Da man wahrscheinlich eher den Duden, Grammatik, zuhanden hat als das Standardwerk von Zifonun et al., beziehe ich lieber die erste Quelle mit ein, § 707-712:
Sprechzeitpunkt = Zeit, in dem ein Individuum eine sprachliche Äußerung macht (a)
Geschehenszeit = Zeit, da das Ereignis stattgefunden hat (b)
Orientierungszeit = Zeit, auf das sich eine Temporalangabe in einem Perfekt-Satz beziehen kann, nämlich entweder auf die Geschehenszeit oder den Sprechzeitpunkt. (c)
Im Jahr X ist Kaiser Y auf dem Höhepunkt seiner Macht gewesen.
Dies kann entweder bedeuten, dass aus heutiger Sicht (also a) gilt, dass Kaiser Y gerade im Jahr X am mächtigsten gewesen ist, das heißt die Geschehenszeit der Machtausweitung b fällt mit der Jahresangabe der Orientierungszeit (c) zusammen, oder es gilt aus heutiger Sicht, dass für das Jahr X gilt, dass der Kaier bereits nicht mehr mächtig ist, sondern den Zenit bereits überschritten hat. Dann bezöge sich das Jahr nur auf das Partizip, weswegen man im D betont: Im Jahr X ist der Kaiser (bereits) auf seinem Höhepunkt GEWESEN.
Für das dt. Präsens ist das insofern irrelevant, als Orientierungszeit und Geschehenszeit zusammenfallen und bei Kombination mit geeignetem Temporaladverb ohnehin ein Präsens alle Zeitstufen bezeichnen kann. Heute fliege ich nach Rom. Morgen fliege ich nach Rom. Gestern fliege ich nach Rom, als plötzlich ein Gewitter losbricht.
Der letzte Satz beinhaltet eindeutig ein sog. dramat. Präsens, das eben ein Geschehen lebhaft darstellt. Der Duden nennt es szensiches Präsens § 724. Davon zu unterscheiden ist aber das Präsens in Lexikonartikeln, Biographien etc, im Jahr X wird Person Y in Wien geboren....
Hier geht es um eine sachliche Aufzählung von Ereignissen im Chronistenstil, nicht um Dramatik.
Für das L gilt:
Auch hier gibt es das dramat. Präsens (cf. Pinkster, Oxford Latin Syntax Vol 1, S.401-409). Aus der Quelle wird deutlich , dass ein solches Präsens oft mit Tempusadverbien oder in einem Kontext steht, der klar auf Vergangenheit verweist und nicht mit dem aktuellen Präsens verwechselt werden kann. Sehr häufig ist das Präsens dann echt dramatisch, in einer wichtigen und entsprechend markierten Stelle verwendet, oft von dynamischen terminativen Verben. Dann eröffnet oder schließt die Stelle aber meist ein echtes Vergangenheitstempus.
Das nur "registrierende, aufzählende" Präsens aus kurzen Biographien etc. nennt Pinkster "annalistic" und führt Stellen wie Liv. 1, 44, 3 an, auch Tac. Ann. 13,1,1 gehört, wie ich meine, hierher.
Für die Übersetzung gilt also: Wenn man im Stile o.g. Autoren schreiben will, ist das Präsens an fraglichen Stellen kein Germanismus.