Salvete!
(1) Der Text: Kussraub und Hermeneutik![Bild](http://u.jimdo.com/www7/o/s77752f504b82f1d2/img/i7e7eef299a7dee7c/1281549168/std/m-c-escher-band-of-union.jpg)
Hier noch einmal carmen 99:
SURRIPUI tibi dum ludis, mellite Iuuenti
suauiolum dulci dulcius ambrosia.
Verum id non impune tuli, namque amplius horam
suffixum in summa me memini esse cruce
dum tibi me purgo nec possum fletibus ullis
tantillum uestrae demere saeuitiae.
Nam simul id factum est multis diluta labella
guttis abstersisti omnibus articulis.
ne quicquam nostro contractum ex ore maneret,
tamquam commictae spurca saliua lupae.
praeterea infestum misero me tradere amore
non cessasti omni excruciarique modo,
ut mi ex ambrosia mutatum iam foret illud
suauiolum tristi tristius elleboro.
quam quoniam poenam misero proponis amori
numquam iam posthac basia surripiam.(2) Die "Guttis-Passage"Fokussieren wir die Passage im letzten Drittel:
nam simul id factum est multis diluta labella
guttis abstersti omnibus articulis
Arbeitet man "nur" mit dem Wörterbuch, verzichtet man also auf Kommentare - etwa den von Kroll, der im Internet schnell zugänglich ist - und verzichtet man damit auf die vielen kompetenten Vorentscheidungen der Experten, so hat man es mit Valenzproblemen zu tun. Kurz und gut: Es geht darum, ob "guttis", ein Ablativ wohl, im Valenzplan von
diluere oder von
abstergere enthalten ist. Und wenn in beiden Verben, welche Einbettung dann im Kontext den besseren Sinn macht.
In der ersten Phase des Lesens mögen verschiedene Verstehensmöglichkeiten bei "guttis" aufleuchten:
Wir skizzieren hier drei:
a)
Ist mit
guttis Wasser gemeint, zur Säuberung der kussbefleckten Lippen?
Das würde implizieren, der Juventiusknabe hat einen ersten Säuberungsakt vorgenommen.
Und dann das säubernde Wasser abgeschüttelt oder ähnliches ... "guttae" ist ein Ablativ des Mittels eingebettet in das Skript von
diluere.
Ein gewisser Widerspruch zu dem "simul id factum est", das ja eine unmittelbare Nähe signalisiert zwischen "ekligem Kuss" und Reinigungsvorgang, wohl im Verlauf der langdauenden -Entschuldigungungsversuche (
amplius horam: länger als für eine Stunde) des Lyrischen Ichs...
b)
Oder ist durch das Weinen des reuigen Kussräubers (
fletibus ullis) eine Sekundärbenetzung entstanden, die es jetzt zu bereinigen gilt? Ähnlich wie in (a) ist hier "guttis" im Stellenplan von "diluta" eingebettet. Grammatisch sicher möglich, aber semantisch oder - sit venia hermeneutico verbo - lebensweltlich?
Das würde ja implizieren, der Knabe habe einen weiteren körperlichen Annäherungsvorgang zugelassen - angesichts seiner Wut oder der typischen Wut dieser Jeunesse (
vestra saevitia) nicht ganz, nicht sehr wahrscheinlich.
c)
Kommen wir zur "Lesart"
abstergere guttis et articulis (
mit Tropfen und allen Fingern etwas abwischen oder abtrocknen, dann auch
vertreiben". Also der These, dass zwei Ablative sich in das Verb "abstergere" einklinken (lassen).
Man erkennt: die metaphorisch-metonymische Lesart "vertreiben" lässt sich vielleicht halten. Das würde voraussetzen: Die Lippen des Jünglings sind durch den Kuss - in seiner Perspektive - "diluta" ("aufgeweicht" und damit "besudelt"). Mit reinem Wasser und dann mit allen Fingern wird das Kussergebnis und der Kuss in die "Vergessenheit" geschickt und "unschädlich" gemacht, allerdings so ostentativ, dass der Kussräuber gedemütigt und auf Dauer ("memini") sich deklassiert fühlen muss.
Gegen diese Lesart spricht vor allem das
Argument der Grundbedeutung: Ein "Abwischen" erfolgt schon auch mit Flüssigkeit als Hilfsmittel, aber ein "Abtrocknen" setzt eher Flüssiges voraus, das nun beseitigt wird. Außerdem ist der Übergang bei "diluta" von "aufgeweicht" zu "durch den Kuss und seinen Speichel aufgeweicht" eher schwierig. Und noch schwieriger ein
durch Speichelflüssigkeit aufgelöster oder gereinigter Lippenmund. Es geht ja wohl eben nicht darum, dass der Kuss feucht und als Reinigung zu sehen ist.
(3) Vorläufiges FazitSomit ist dann Lesart (c) nicht recht einleuchtend. Lesart (a) ist gegenüber (b) wahrscheinlicher und ihr gewisser Widerspruch zu
simul kleiner als der Handlungswiderspruch, der in (b) anzusetzen wäre.
Wir haben im lyrischen Text einen zweifachen Reinigungsvorgang zu
sehen bekommen, erst agiert der Knabe mit Wasser, dann mit den Fingern, die das Wasser "abstreifen". Eine demütigend-offene, intensiv-widerwillige, apotreptische Geste ...... und - ein neuer Aspekt - sie wird rückgebunden - im Vergleich - an die imaginierte Beschmutzung durch eine Fellatio-Hure.
Wobei hier leicht absurd ein
passiver Anteil des Kussräubers akzentuiert wird ...... Ein Rollenwechsel. der zu neuen Unsicherheiten in der Lesartfindung/Verstehensphase führt, wohl aber zu stimulierenden Unsicherheiten ....
Was ist hier los? Ein absurder Vergleich, der auf absurde Abwehrmaßnahmen, ungerechtfertigt, unpassend, übertrieben ... hinweist?
(4) Didaktische Reduktion durch Einlassen auf den Text (?)Kroll - siehe Link unten - arbeitet bei seinen Vorentscheidungen mit Parallelstellen bei Catull und im Corpus antiker (Liebes-)Rhetorik. Ein verdienstvolles Prozedere, gewiss. Umso interessanter vielleicht, was bei einer eher "naiven" Vorgehensweise ein Student oder LK-Schüler - nur mit dem Lexikon bewaffnet - auf seinem Kriegspfad durch den Text an Spuren lesen muss, bis er - vielleicht - in den Genuss einer stimmig erscheinenden Lösung kommt.
http://tinyurl.com/d3zjvcvP.S.
Hier noch ein besonderes Schmankerl (
honigsüßer ludis ![Hammer :hammer:](./images/smilies/hammer.gif)
) - möge die hermeneutische Muse, ne die Basisgrammatik-Muse den Übersetzer kopfnussmäßig treffen:
Ich raubte dir, während du spieltest, honigsüßer Iudis,
Küsse, süßer als süße Götterspeise. Aber ich habe
dieses nicht straflos getan: denn ich erinnere mich, dass ich mehr als eine Stunde lang hoch oben am Kreuz
geheftet war, während ich mich bei dir entschuldigte und nicht durch irgendein Weinen von mir ein bisschen
von deinem Zorn wegnehmen konnte. Denn sobald das geschehen ist, wischtest du sie, nachdem die Lippe
mit vielen tropfen abgespült war, mit allen Fingern ab, damit nicht irgendetwas, das aus meinem Mund
bekommen worden ist, bleibe, so wie der säuische Speichel einer besudelten Hure. Außerdem hörtest du
nicht auf, mich Armen dem feindlichen Armor zu übergeben und mich auf jede Art zu quälen, so dass mir das
sich aus der Götterspeise verwandelte Küsschen widerlicher war, als widerlicher Nieswurz. Da du ja diese
Bestrafung der unglücklichen Liebe vorschlägst, will ich dir niemals mehr in Zukunft heimlich Küsse rauben.http://www.latein-lk.de/Texte/Catull/catull_99.htmwiwa