complexio et dispositio.

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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complexio et dispositio.

Beitragvon Laptop » Sa 5. Jul 2014, 06:05

Salvete. Bei diesem Text von Ibn Butlan habe ich mit den zwei Vobabeln complexio und dispositio Schwierigkeiten, was ist damit gemeint?

1) complexio. Die dt. Übersetzungen sprechen auch nur von “complexion”, und sowas wie “körperliche Beschaffenheit” ist mir zu vage. Ist damit die (persönliche, aktuelle) Mischung der vier Säfte-Zustände gemeint und kann man mit “Säftezustand” übersetzen?

2) dispositio. In der neueren Medizin ist damit die Anfälligkeit für die Ausbildung von Krankheiten gemeint, ist das in diesem Text auch so? Ist etwas negatives oder positives gemeint? “körperliche Beschaffenheit” ist mir auch hier zu vage ;-)

Vinum calefacit corpus, digestionem meliorat, membra humectat, syncopim et sitim aufert, quando lymphatum fuerit, urinam prouocat, uentrem laxat, animum laetificat, solatium, libertatem, et prudentiam efficit, maxime corporibus temperatis. Et hae sunt operationes suae, quando bibitur moderate. Cum uero immoderate bibitur, uigilias facit, et inflationes hepatis: appetitum, coitum et nutrimentum minuit. Lethargiam, malum odorem oris, tremorem corporis, agitationem, epilepsiam, debilitatem neruorum, et uisus inducit: febres efficit, et sensus permixtionem, malum intellectum, paralysim oris, et subitaneam mortem inducit. eo quod uinum cerebrum replet, et calorem suffocat: sicut oleum abundans, lucernae flammam extinguit. Et si aliquis inquirere uoluerit, inueniet decem uini iuuamenta: quinque ex parte corporis, et quinque ex parte animae. Nam digestionem efficit meliorem, prouocat urinam, pulchrum reddit colorem, bonum odorem efficit, roborat coitum, animum laetificat, bene sperare facit, et audaciam reddit, et pulchrificat dispositiones corporis, et auariciam compescit. Et melius inter uina ad generandum sanguinem temperatum in complexionibus temperatis, est uinum rubicundum, bene lymphatum, odoriferum, mediocre inter nouitatem, et uetustatem. Et habentes complexiones calidas, bibant uinum lymphatum, infundentes in eo panem similaceum, et frusta citoniorum, et poma. Quandoque bibatur etiam post comestionem amigdalinum. Quod si uinum clarum quis uoluerit facere, terat amigdalas, et linguam bouinam misceat, et colat. Hoc etiam taliter praeparatum cor confortat. Recipiatur tamen post hoc sorbitio una aquae frigidae. Habentes uero complexiones frigidas, non indigent. Vinum etiam non est bibendum a famelico, et repleto cibis salsis, acutis, et acetosis: nec post assumptionem lactis, nec post cibum: ne forte opilationem et hydropisim incurrat: sed post duas horas uel tres bibendum est uinum. Cauendum est etiam, ne in bibendo diuersa uina misceantur. Nec bibendum est post balneum, nec post exercitium: nec per diuersas uices unius potus diuidatur in potionibus. Conueniens est, suffumigationibus uti. A colloquio duro, uel taciturnitate est abstinendum, a somno, ebrietate, et a potu supra nauim quae velociter uehatur, a nimio motu, et ab aspectu uini quod uasa continent: nam haec omnia potum minuunt, et ebrietatem faciunt. si uero sit numerus uasorum continentium libram unam, secundum numerum quatuor humorum, hoc appetitum inducit, et somnum tranquillum facit, et cibi digestionem.
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Re: complexio et dispositio.

Beitragvon Prudentius » Sa 5. Jul 2014, 10:11

Du kannst die Begriffe als Gegensätze verstehen, wie es ja die Vorsilben schon andeuten: complexio geht auf das Verbindende, Vereinigung, Synthese, Integration, das Allgemeine, Begriffliche; dispositio geht auf das Trennende, Analyse, Vereinzelung, das Konkrete.
Ich meine, in den beiden Wörtern die Schlüsselbegriffe der neuplatonischen Philosophie zu erkennen: das Eine, das ewige Sein hat zwei Zustandsformen, es ist entweder bei sich gesammelt, complexio, oder es ist verteilt, vereinzelt, verstreut in den materiellen Dingen, dispositio (?).

Diese beiden Kategorien sah man früher überall, mit Nachwirkungen bis heute; beim Blutdruckmessen unterscheidet man das "Systolische", die Zusammenziehung, und das "Diastolische", die Lösung des Herzmuskels (ich bin aber kein Medicus :) ).

Die 4-Säftelehre hat auch noch ein interessantes Nachleben: "complexion", engl., der Gesichtsausdruck, eigtl. die individuelle Saftmischung; "Temperament" sagen wir: die Mischung, nämlich der Säfte; und vor allem der "Humor", der Saft; das Engl. hat noch alle Bedeutungen des L.

Ich hab jetzt nur angeführt, was mir durch den Kopf geht, ob es für deine Schwierigkeit etwas bringt, weiß ich nicht.

lgr. P. :)
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Re: complexio et dispositio.

Beitragvon Laptop » Sa 5. Jul 2014, 10:24

Hallo Prudentius, wenn du sagst die complexio meint die individuelle Saftmischung, dann fasse ich das als Bestätigung auf, das bringt mir schon sehr viel! Man könnte dann auch sagen “persönlicher Säftezustand”, richtig?

Bei dispositio tappe ich noch im Dunkeln ... Der Autor sagt Wein “verschönere” (pulchrificat) die dispositio. Etwas per se negatives, wie in der heutigen Medizin, ist offensichtlich nicht gemeint, denn Aquin benutzt es in Verbindung mit bona, “bona dispositio”. Wenn dispositio, so wie ich es verstehe, etwas chronisches und angeborenes ist, dann paßt der Ausdruck “Körperliche Anlage”, wie bspw. “Carlsen hat die Anlagen zum Schachweltmeister”. Eine körperliche Anlage ist dann etwas weder per se positives oder negatives, sondern angeborene biologische Vorzüge oder Nachteile, also kräftig oder schwach, robust oder empfindlich (ggü. Krankheiten), intelligent oder dumm ist. “Verfassung” paßt dann weniger, denn wir verwenden wir das für einen gegenwärtigen Zustand, wie “ich bin heute in schlechter körperlicher Verfassung”, d. h. nicht fit. Aber inwiefern ergibt in diesem Zusammenhang das Verb “verschönern” (pulchrificare) einen Sinn?
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Re: complexio et dispositio.

Beitragvon Prudentius » Sa 5. Jul 2014, 17:37

Hallo Laptop,

du sagst die complexio meint die individuelle Saftmischung


u.zw. im Sinne der Synthese, wie oben: aus den vier einzelnen Elementen wird eine neue Einheit hergestellt, com-plexio = Zusammenflechtung; es ist die eine der beiden Elementarbewegungen, die von der Vielheit zur Einheit.

"dispositio" möchte ich ganz anders verstehen; ich lasse mal die Sparkasse sprechen:

"Der Dispokredit schafft Handlungsspielraum" :-D


Etwas steht zur Disposition, d.h. kann abgechafft werden; der Firmenchef disponiert, er setzt seine Mittel gezielt an einzelnen Stellen ein, wo sie Erfolg versprechen. dispositio also im Sinne der Analyse, der anderen Elementarbewegung, vom Einen zum Vielen, vom Allgemeinen zum Besonderen.

dis-positio, dis-ponere, ganz elementar: "auseinander - stellen", ein Ganzes auseinandernehmen und auf Einzelnes verteilen.

Übersetzen könnte man vllt: die Fähigkeit oder Bereitschaft, sich an unterschiedliche Anforderungen anzupassen.

Man könnte dann auch sagen “persönlicher Säftezustand”, richtig?


Das können wir sagen, nachdem wir uns über den Sinn der alten Säftelehre verständigt haben; aber sonst kann man es nicht sagen.

Schwierige Materie, nicht wahr? Aber wir kommen weiter!

lgr. P. :)
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Re: complexio et dispositio.

Beitragvon Laptop » So 6. Jul 2014, 10:58

Freue mich über deine Weiterführung des Themas!
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Re: complexio et dispositio.

Beitragvon Prudentius » Mo 7. Jul 2014, 08:27

Hallo Laptop,

nachdem ich das Thema weitergeführt habe, möchte ich auch noch auf das Naheliegende kommen :) , wie man die Ausdrücke verstehen und übersetzen kann.


et pulchrificat dispositiones corporis, ... /quote]

die körperlichen Bewegungsarten, Gesten, Haltungen, Fähigkeiten; pulchrificat schön machen, elegant, anmutig, geschmeidig, reizvoll, ansprechend erscheinen lassen.
Denke an den Hintergrund von dispositio, dis- heißt auseinander: es geht vom einen zum vielen, von dem einen Körper, der sich in seinen Bewegungsarten in ein ganzes Spektrum von Bewegungsarten auffächern kann.

Et melius inter uina ad generandum sanguinem temperatum in complexionibus temperatis[


"in ausgewogenen Stimmungslagen", denke auch hier an den Hintergrund von complexio, com- heißt zusammen: es geht vom vielen zum einen, von den vier Säften zu der einen ausgewogenen Stimmung; "ausgewogen": nicht wirr, sprunghaft, heftig, sondern maßvoll.

"Säftemischung" verbinden wir mit dem Getränkemarkt :-D , das gebrauchen wir nicht für Psychisches; es ist auch keine bleibende Anlage da, denn er handelt vom Weintrinken und der dadurch erzeugten sehr kurzzeitigen Stimmung. Säftemischungen sind in Fluktuation, kann man wohl sagen.

Ob Calsson zum Weltmeister veranlagt war, weiß ich nicht, vllt. hat ja Anand nur schwach gespielt :-D .

Es sind ja zweierlei Schwierigkeiten da: wie die Ausdrücke verstehen, und wie sie verständlich für die Heutigen wiedergeben; obendrein habe ich versucht, das Denkmodell zu ergründen, an das der Autor sich hält, und du siehst vllt., dass es hilfreich ist.

Es wäre auch interessant: Der Text ist offensichtlich eine Ü. aus dem Arabischen: kannst du etwas angeben, wann und von wem sie stammt?

lgr. P.
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Re: complexio et dispositio.

Beitragvon Laptop » Mo 7. Jul 2014, 12:02

Ja, selbstverständlich. Der Autor ist http://de.wikipedia.org/wiki/Ibn_Butlan Mein Transkript folgt der lat. Ausgabe von Hans Schott, 1531. Er schrieb arabisch, und die lat. Übersetzung fertigte jemand unbekanntes an, Zitat:
Der Übersetzer (des lat. Textes, Anm. d. Verf.) ist zwar unbekannt, aber Auftraggeber war König Manfred von Sizilien (13. Jahrhundert).

Die Idee im arabischen Original nachzuschauen, ist natürlich gut, leider beherrsche ich kein Arabisch :-( Ich vermute im Original steht etwas schwierig zu übersetztendes, wie bspw. “bringt Leib und Seele in harmonisches Gleichgewicht”, womit der Übersetzer dann überfordert war, und nur ungenau übersetzte.
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Re: complexio et dispositio.

Beitragvon Prudentius » Mi 9. Jul 2014, 10:33

König Manfred von Sizilien (13. Jahrhundert).


Das ist ja der Sohn des berühmten Kaisers Friedrich von Hohenstaufen, er ist verewigt in dem Namen der Stadt Manfredonia in Apulien.
Aber dass die Vorstellung von den vier Säften auf den Übersetzer zurückgeht, glaube ich nicht, das war wohl antikes Allgemeingut.
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Re: complexio et dispositio.

Beitragvon Zythophilus » Mi 9. Jul 2014, 23:24

Gerade auf diesem Weg floss viel Wissen, zu dem man durch die Ausbreitung des Islam in Europa den Kontakt verloren hatte, wieder zurück.
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