von Sokrates » Mi 26. Apr 2023, 13:31
Salvete,
zunächst kann man die Konstruktion auf das Wesentliche beschränken und dieses Gerüst dann analysieren:
a) qui monstrat,
b) quam nihil nobis natura durum et difficile impetraverit,
c) posse nos habitare sine (...),
d) si contenti fuerimus.
b hängt als indirekter Fragesatz vom Zeigeverb in a direkt ab, d hängt direkt von c und gedanklich vielleicht vom ganzen Nebensatzkomplex ab, die Frage ist, wie c zu a und b steht.
In b monstro ich zeige, lehre, weise darauf hin
Impero anbefehlen, auferlegen, zumuten
In b kann entweder quam alleine stehen (eher „in welcher Weise“ als „in welchem Grad“) und nihil ist Bezugswort zu den Adjektiven durum et difficile, die wegen der Alliteration der N- und D-Laute in Sperrung stehen, sodass man übersetzen kann: der zeigt, wie die Natur uns nichts Hartes und Schwieriges anbefohlen hat...≈ welch geringe Härte und Mühe uns die Natur auferlegt hat.
Oder quam nihil gehört zusammen, wobei nihil adverbialer Akkusativ ist (Maß mit totaler Negation: „in welchem Grade überhaupt nicht/in keiner Hinsicht“, wie sehr gar nicht (cf. Georges s.v. quam: quam nihil (wie wenig wert) sit omnino, Cic und Cic.: quam nihil est totus homuncio! wie so gar nichts, Petron.: quam nihil praetermittis in consilio dando!), dann sind die Adjektive substantiviert und alleinige Objekte, also ungefähr: der uns darauf hinweist, wie die Natur uns gar nicht eine Härte und Schwierigkeit auferlegt hat…
Der Teil c kann nun entweder direkt von a abhängen und wäre dann einfach asyndetisch und variierend mit dem indirekten Fragesatz syntaktisch auf einer Ebene, oder er kann von b abhängen.
Um von b abhängig zu sein, müssten die AcIs als Akkusativobjekt von impetraverit abhängen, die Adjektive wären dann nur prädikativ dazu vorgeschaltet, also: der uns zeigt, als wie wenig Hartes und Schwieriges es uns die Natur befohlen hat, dass wir ohne (…) leben können.
Diese Deutung halte ich für abwegig und konstruiert.
Vielmehr ist c direkt von a abhängig, aber nur syntaktisch. Semantisch bilden die AcIs einen anderen Gedanken ab als der indirekte Fragesatz, der unabhängig ja ein Ausrufesatz war. Entweder begründet c b oder spezifiziert es: wie wenig Härte uns die Natur auferlegt hat, weil wir doch ohne (…) leben können ≈ wenn wir doch leben können, kausal. Oder restriktiv-limitativ: immerhin können wir ja leben, angesichts der Tatsache, dass wir doch leben können.
Die Loeb-Übersetzung von marcus benutzt ein „when“, was sowohl quasikausal wie erläuternd betrachtet werden kann.
Gerhard Fink sieht c als Folge von b, was mir nicht einleuchtet, und schreibt „wie die Natur uns nichts Hartes und Schwieriges auferlegt hat, so dass wir ohne Marmorkünstler und Bauhandwerker wohnen können (…), Seneca Briefe an Lucilius II, Sammlung Tusculum, S. 205.
Wenn b und c aber wenigstens syntaktisch beigeordnet sind und beide von a abhängen, ist eine innere Abhängigkeit von a gegeben. Sowohl quam in indirekter Frage als auch quam nihil in indirekter Rede (cf. Georges s.v. quam II, a α, in der indirekten Rede nennt) als auch ein AcI nach monstrare werden als Gedanken des Redenden empfunden. Eine Bedingung für die Überlebensfähigkeit wird nachgeliefert (an der es ja gerade mangelt), nämlich die Zufriedenheit und Genügsamkeit. Als Teil des Gedankens steht hier der Coni. obl. und zwar im Perfekt der Vorzeitigkeit, weil dieser Wandel eben stattgefunden haben muss, also durchaus mit Aspektbedeutung „wenn wir denn einmal die innere Haltung der Genügsamkeit entwickelt haben, d.h. uns mit dem Nötigsten abgefunden haben.“ Ein vorzeitiger Nebensatz im Konjunktiv, der von einem AcI mit Haupttempus-HS abhängt, steht eben im Konj. Perfekt. Die Vorzeitigkeit erklärt sich aus dem abgechlossenen Erreichen eines Zustandes, die Tempuswahl folgt der Consecutio temporum.
Im Englischen ist die Vorzeitigkeit in der Phrase provided only, that impliziert, Fink wählt Präsens.
Ein Futur scheidet also angesichts der inneren Abhängigkeit aus. Ohne innere Abhängigkeit wäre ein präsentischer HS mit AcI mit „futurischem“ posse und dann Gliedsatz mit Futur II vielleicht vorstellbar, aber kaum in diesem Kontext.
Unabhängig könnte es heißen: Possumus habitare, si contenti fuerimus. Ein HS als Prophetie, futurisch gemeinte Aussage mit zukünftig vorzeitigem GS, entweder weil das Fut II eine starke Sicherheit der Aussage bedeutet oder den Aspekt der Abgeschlossenheit der Ausbildung einer neuen Geisteshaltung kennzeichet. In Abhängigkeit von monstrare könnte der GS sich dann in der Form präsentieren, die auch unabhängig vorläge. Also genau monstrat posse nos habitare, si contenti fuerimus. Ein Futur II ließe sich also sowohl von einem futur. AcI (Vorzeitigkeit zu einer Zukunft) als auch von einem präsentischen HS monstrat aus rechtfertigen (Aspekt), wenn man den Indikativ annimmt. Dass der Relativsatz im Indikativ Perfekt steht, liegt daran, dass er als paraphrasierender Relativsatz, der eine Erläuterung bzw. eine Beschreibung aus der Außensicht gibt, gedanklich nicht zur abh. Aussage gehört.
Liebe Grüße
Sokrates