Digestenstelle

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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Re: Digestenstelle

Beitragvon Medicus domesticus » Mi 1. Jan 2014, 18:11

Genau das ist der Punkt. Es sind Exzerpte. Consus hat Kunkel zitiert. So sehe ich das auch. Es wurden oft Teilsätze entnommen aus einem größeren Satz. Da kann sich natürlich auch ein Fehler einschleichen. Solche Ungereimtheiten sind ja bei Ulpian immer wieder mal festzustellen.
Es ist auch ganz interessant, was hier zu lesen ist:
Bild
Im Prinzip könnte der Satz in einem größeren Zusammenhang gestanden haben, wie obengenannt:
Heres non plus iuris ad alium transferre potest quam ipse haberet, si hereditatem adisset.
Eine grammatische Anpassung ist dann nicht mehr erfolgt.
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Re: Digestenstelle

Beitragvon Zythophilus » Mi 1. Jan 2014, 18:37

Käme etwas Vergleichbares als Übersetzungsvorschlag eines Tätowierungswilligen, würden wir fraglos dringend zu einer Änderung raten. Der Imperf. Konjunktiv lässt sich m.E. nicht rechtfertigen. Entweder liegt hier schon ein Schreibfehler in der HS vor oder bei Mommsen hat sich ein solcher bzw. ein Satzfehler eingeschlichen. Normalerweise wird der Text mit habet zitiert, vorstellbar ist auch habeat oder habuerit.
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Re: Digestenstelle

Beitragvon Sokrates » Mi 1. Jan 2014, 18:44

Salvete,

aus Zeitgründen nur eine grobe Einschätzung aus meiner Sicht, die wenn überhaupt auf sprachlichen, nicht auf editorischen oder gar juristisch-fachwissenschaftlichen Füßen steht ;)

Es handelt sich doch um einen Komparativsatz, plus(…) quam -freilich eine Verkürzung aus (…) als das Maß, was man selbst hat- ein koneskutiver Nebensinn wie etwa im Relativsatz scheint mir nicht herleitbar, doch allein auf Grund der Tempuswahl.

In diesen Vergleichssätzen erwartet man tatsächlich den Indikativ, und wenn, wie hier, keine Einbettung in ein Satzgefüge vorliegt, wodurch innere Abhängigkeit oder jede Art der Modusattraktion ausscheiden, bleiben die Konjunktive übrig, die den Wirklichkeitsgrad der Aussage angeben, also Potentialis und Irrealis.
Der Form nach kommen (ohne die Sonderfälle) Potentialis der Vergangenheit und Irrealis der Gegenwart in Frage.
Beide können auch in einem gewöhnlichen Gliedsatz stehen, nur ist der Potentials der Vergangenheit in dieser Verwendung doch recht selten, außerdem, und das ist wohl gewichtiger, müsste im HS ein Nebentempus oder eine Art der Vergangenheitsumschreibung gesetzt sein -nicht unbedingt auch im Potentilais, ein solcher tritt auch sehr oft zu indik. HS- (wie sonst sollte sich eine Möglichkeit in der Vergangenheit (ohne größeren Kontext) gegenüber einem Pot. der Gegenwart rechtfertigen lassen?).

Ganz richtig ist consus' Bemerkung über die "Modalphrasen", die in den alten Sprachen real formuliert sind, im Deutschen aber oft gefühlsmäßig im Konjunktiv wiedergegeben werden.
Darunter könnte dieses "potest" hier also auch fallen (ein possit nach Menge § 106, 4 fällt raus, weil hier ja der HS nicht als bedingt oder nichtwirklich gelten soll, in einem Rechtsspruch setzt man wohl lieber den faktischen Indikativ.).
Der Autor sah das können also zunächst aus seinem Sprachgefühl für real an und setzt den entsprechenden Modus, da wäre es doch inkonsequent, mit einem Irrealis fortzufahren, gleichsam als schwebe dem Schreiber zwar eine irreale Periode vor und er müsse aus "formalem Zwang" den Indikativ nehmen, nur weil es sich um passe handelt (cf. Menge § 562, 4 Anm. 1).
Ein solches Phänomen, nämlich dass der Lateiner trotz des Indikativs im HS im Gliedsatz dann doch mit einem Irrealis fortfährt, so, wie man es aus dem Deutschen erwarten würde, also den Müssen-Können Verben gedanklich scheinbar auch eine irreale Komponente zuteilt, gibt es dann aber offenbar nur für den Irrealis der Vergangenheit nach menge §562, 4 (a).
Warum sollte, insgesamt gesehen, auch ein Irrealis im Nebensatz auftauchen, ohne das sich diese Modalität aus dem Hauptsatz oder dem Kontext ergäbe (was wie gesagt bei dieser juristischen Formel schwierig scheint).
Ein solcher Fall liegt hier kaum vor.

Zusammenfassend sind die Erklärungen des haberert mit Potentials oder Irrealis sicher möglich, aber schwer nachzuvollziehen.
Sich auf korrupte Stellen etc. zu berufen, scheint ja hier unangebracht und ist auch sonst wenig schön. Am ehesten läge es vielleicht an einer anderen Sprach- und Modusauffassung des Autors, wir wären mit einem habet zweifelsfrei seliger…. :nixweiss:

Wie seht ihr Profis das denn?

LG
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Beitragvon consus » Mi 1. Jan 2014, 18:44

Servus, Markus!
Melde mich noch einmal…
Da ich durch die Familie juristisch „angehaucht“ bin, lässt auch mir das Problem „haberet“ keine Ruhe. Am heimischen Herd sitzend fand ich im Netz Auszüge aus Richard Böhrs Abhandlung „Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht“ (Mchn/Lpz 2002). Der Autor befasst sich mit D. 50, 17, 54 auf S. 39f., einschl. Fn. 110. Eine überzeugende fachjuristische Erklärung würde jedem Latinisten eine Freude bereiten.
:-D
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Re: Digestenstelle

Beitragvon Sokrates » Mi 1. Jan 2014, 18:49

puh, da hat sich mal wieder einiges überlgert ihr Lieben, sortiert meinen Beitrag entsprechend ein ;)
aber Medicus und Zythophilus beruhigen mich doch wieder... :D
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Re: Digestenstelle

Beitragvon consus » Mi 1. Jan 2014, 19:15

Medicus domesticus hat geschrieben:... Im Prinzip könnte der Satz in einem größeren Zusammenhang gestanden haben, wie obengenannt: Heres non plus iuris ad alium transferre potest quam ipse haberet, si hereditatem adisset. ...
Servus, Medicus! Da die Photographie der Fn. 1 auf S. 21 in Marta Ceninis Opus Gli Acquisti a Non Domino nicht so gut lesbar ist, hier eine coniunctio, um im Netz dorthin zu gelangen.
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Beitragvon consus » Mi 1. Jan 2014, 19:31

Sokrates hat geschrieben:... Zusammenfassend sind die Erklärungen des haberert mit Potentials oder Irrealis sicher möglich, aber schwer nachzuvollziehen. ...
Macht nicht Marta Cenini (s.o.), bester Sokrates, durch ihre Vervollständigung des Ulpian-Exzerptes die von Prudentius und mir schon behauptete irreale Deutung von haberet recht plausibel?
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Re: Digestenstelle

Beitragvon iurisconsultus » Mi 1. Jan 2014, 20:07

Salvete!

Die Theorie des unangepassten Exzerpts überzeugt. Die zitierte Stelle übersetzt: Hätte der Erbe die Erbschaft angetreten, hätte er nicht mehr Rechte übertragen können als der Erblasser selbst. Das stimmt sowohl juristisch als auch - soweit ich sehe - sprachlich.

Die Bedeutung dieses Rechtsgrundsatzes habe ich bereits versucht kurz darzulegen. Genaueres lässt sich den zitierten Ausführungen Böhrs entnehmen.

P.S. In einigen Kommentaren zum ABGB (insbesondere im bedeutenden Schwimann'schen Großkommentar) wird die Stelle isoliert mit "haberet" zitiert. Der (vermeintliche) Fehler setzt sich somit (zumindest in Teilen des österr Schrifttums) noch heute fort.
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Re: Digestenstelle

Beitragvon Sokrates » Mi 1. Jan 2014, 20:12

salve optime conse,

ja, das ist richtig. Die zitierte Erklärung ist für ebenso realistisch wie plausibel, und befindet sich natürlich auch im Einklang mit der Normgrammatik, insofern ein echter Irrealis vorliegt (der, wie in den allermeisten Fällen, durch einen als unwirklich betrachteten Bedingungssatz ausgelöst wird, weniger durch den indikat. HS), nur konnten wir das ja nicht wissen, dass unserem Vergleichssatz einfach der si-Satz fehlt, und das einfach so anzunehmen wäre sehr gewagt gewesen, sodass man den Satz so wie angegeben als vollständig hatte ansehen müssen, und genau und ausschließlich mit dieser Prämisse lässt sich meine Einschätzung oben vornehmen. Andernfalls hätte man ja a posteriori argumentiert, denn auch wenn, wie nun feststeht, im Ursprungstext ein Irrealis vorlag, und alle, die von Anfang an in diese Richtung gedacht haben, völlig richtig liegen, so ist die Begründung für ebendiesen eine andere.
So wie ich den Kommentar verstanden habe, wäre es aber doch angebracht gewesen, ein habet zu setzen, wenn man den Satz so wieder veröffentlich? Man hat die Quelle also unrichtig, da verkürzt, weiterverwandt und nicht die notwendige Änderung vorgenommen, mit der diese Formel im Allgemeinen dann erscheint?

Übersetzung:
Ein Erbe kann nicht mehr an Rechten an einen anderen übertragen, als (die, welche) er selbst hätte, wenn er die Erbschaft angetreten wäre

Bin auf weitere Analysen und Kommentare gespannt, das ist ja schon recht verzwickt :-o

LG Sokrates
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Re: Digestenstelle

Beitragvon iurisconsultus » Mi 1. Jan 2014, 20:30

Salvete!

Genauso ist es Sokrates. Die Digestenstelle Ulpians ist exzerpiert und damit grammatikalisch falsch im österr Schrifttum nach wie vor vorhanden. Das hat allerdings keine Auswirkungen für die sogenannten Normunterworfenen, weil die Stelle ohnehin stets im Sinne von § 442 S 3 ABGB verstanden worden ist.

Um im Konjunktiv noch ein wenig zu verweilen: Hätte ich das gesamte Zitat gekannt, hätte ich euch natürlich nicht die gekürzte Version vorgesetzt (und ja - um gleich vorzugreifen -, ich hätte sie als Jurist kennen müssen😉). Vielmehr hätte ich eure Zeit überhaupt gar nicht bemüht, weil sich die grammatikalische Korrektheit dann sogar mir voll und ganz erschlossen hätte. 😉

Ich freue mich aber, dass mein erster (und hoffentl nicht letzter) Beitrag so reges Interesse geweckt hat und danke vielmals für jede einzelne Stellungnahme.

Valete
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Re: Digestenstelle

Beitragvon Sokrates » Mi 1. Jan 2014, 20:40

salve,

gut, das bringt Licht ins Dunkel, aber bemerkenswert, wie sich ein Fehler einschleichen und zähl halten kann… da bleibt nur zu hoffen, dass unsere Gesetze nicht gänzlich nicht auf als standfest und grundsolide angesehenen, sondern auf bröckeligen morschen Hochbauten stehen :lol:

Gerne wende dich bei weiteren Fragen an uns, da spreche ich sicher im Namen aller, denn aus Fehlern (auch aus denen, die die früheren Zeiten und die Menschen in diesen machten) lernt man!


LG
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Re: Digestenstelle

Beitragvon consus » Mi 1. Jan 2014, 21:15

Ein Schlusswort auch meinerseits, Markus: Eine authentische Interpretation von D. 50, 17, 54 mit "haberet" wäre heute nur möglich, wenn man auf dem Wege einer Beschwörung die Manen Justinians und seiner Juristen herbeiriefe. Doch entspricht mit Gewissheit der in der Digestenstelle latente „Wille des Gesetzgebers“ (dieser Begriff sei hier einmal erlaubt) dank teleologischer Auslegung dem Wortlaut des österreichischen ABGB. Das „habet“ erhöht zwar die Verständlichkeit des Textes, die lectio difficilior sollte aber aus Ehrfurcht vor dem Original beibehalten werden. Insgesamt eine Erörterung, die fürwahr Freude machte! Sokrates' Schlusswort schließe ich mich an. Gruß ins schöne Linz!
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Re: Digestenstelle

Beitragvon Medicus domesticus » Do 2. Jan 2014, 10:14

Das war eine sehr interessante und verzwickte Frage, ein kleines aenigma. Aber solche Fragen, die nicht gleich offensichtlich sind, liebe ich. Wenn du mal wieder so etwas hast, dann frage nur, iurisconsulte.
Gruß aus den südostbayerischen Bergen ins unmittelbare Nachbarland! :-D
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