quo mentes sese flexere viai?

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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon RM » Di 8. Apr 2014, 19:51

Hat jemand mal alle Lesarten des gesamten Zitates parat?
Ich habe gerade in der Handschrift aus der Colléction Bodmer nachgeschaut, um mal wenigstens überhaupt ein Original überprüft zu haben (Cod. Bodmer 50: http://www.e-codices.unifr.ch/de/cb/0050/9r/medium). Da steht natürlich etwas ganz anderes, nämlich:
Quo uobis mentes quae rectae stare solebant.
Antehac dementi sese flexere ruina;


Diese Variante ist jetzt aus Powells Edition nur ungenau zu entnehmen gewesen, aber interessant! Offensichtlich trainieren Altphilologen daran schon lange ihre Phantasie.

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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon Sokrates » Di 8. Apr 2014, 19:57

Salvete,

interessant, RM, was da noch so alles zu Tage kommt :lol: Aber im Ernst:
Hier sehe ich ein fundamentales Problem der Philologie:
Man hat eine Textstelle, die stark unsicher ist. Es gibt diverse Konjekturen, einige Versionen, wie dem Genitiv jeder Art, kann man syntaktisch entkräften und wohl verwerfen, aber das war es auch.
Ob da irgendeine Form von via, vietus oder noch was ganz anderes stand, ist einfach nicht sicher zu klären.
Natürlich schult und beansprucht es das grammatische, metrische und stilistische Verständnis, wenn ma die einzelnen Fälle bespricht, aber es ist letztlich nicht zu klären und lässt ein unschönes Gefühl zurück.
Wie seht ihr das?

LG
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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon Medicus domesticus » Di 8. Apr 2014, 20:11

Ich kopiere euch mal die Lesarten, die Powell angibt, hier rein. ruina ist auch vertreten:

Bild
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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon Zythophilus » Di 8. Apr 2014, 20:43

Der kritische Apparat besagt, dass es zwei Hss. (als ω und ς bezeichnet; oder sind das Hss.gruppen?) gibt, von denen die eine uia bietet, während es bei der anderen nicht klar ist, ob ruina, uie oder uite steht.
uiai ist wie uietae eine Konjektur, keine Lesart.
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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon Medicus domesticus » Di 8. Apr 2014, 20:51

ω -> codd.omnes
ς -> e codicibus recentioribus unus vel plures
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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon RM » Di 8. Apr 2014, 20:52

An sich gefällt mir die ruina-Version, weil sie gut zu "quae rectae stare solebant" passt, also solange noch "mens" vorhanden war, standen sie aufrecht, als die "mens" weg war, schief und krumm wie eine leblose Ruine. Außerdem findet man die "dementis ruinas" ja nicht nur hier ... :wink: ... na, ihr wisst schon wo. Und - siehe da! - da taucht sogar "antehac" auf - das einzige Mal bei diesem Autor! Zufall ist das wohl nicht.

Das mit Powells "ruina vel uie vel uite" habe ich nicht so recht verstanden. "ruina" ist jedenfalls in Cod. Bodmer 50 völlig unzweifelhaft zu lesen. Erstaunlich auch, wie viele Handschriften "dementi" zu haben scheinen. Es ist übrigens interessant, was man alles findet, wenn man "dementi ruina" in Google eingibt.

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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon Zythophilus » Di 8. Apr 2014, 21:23

Consus hat geschrieben:2. Skutschs Lösungsvorschlag erfolgt im Hinblick auf die antithetische Struktur des Satzes:
"mentes is answered by dementes, stare solebant by sese flexere; hence rectae should have its own contrast in uietae (Scaliger)."

Der Vorschlag klingt zunächst gut, aber hat doch seine Haken: dementes bezieht natürlich auf mentes , ist aber ein Adjektiv. Mir kommt es seltsam vor, dass uietae als Adjektiv ebenfalls mit mentes übereingestimmt sein soll. Die ganze Aussage des Relativsatzes rectae stare solebant hat ihre Antithese in sese flexere.
Meine Idee daher uiaeque "wohin haben sich eure Sinne ... und Wege gewandet?"
Das Substantiv ruina finde ich im Zusammenhang mit dem Verb flectere nicht bes. passend.
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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon Sokrates » Di 8. Apr 2014, 22:03

ja, dem rectae stare solebant wird dann im sese flexere vitae entsprochen, nur was ist dann mit dem dementes, es mag mit mentes als antithetisches Polyptoton assoziiert sein, aber es ist doch klar von mentes abhängign, prädikativ?! Wie ist das zu bewerten…
Guter Vorschlag, deine Übersetzung, aber woher die Koordination mit und?

LG
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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon RM » Di 8. Apr 2014, 22:36

Zythophilus hat geschrieben:Das Substantiv ruina finde ich im Zusammenhang mit dem Verb flectere nicht bes. passend.

Aber es passt ganz gut zu Hor. Car,. 1, 37, 6-8, wie ich vorher schon andeutete, insbesondere wenn man die anscheinend häufige Überlieferung von "dementi" (statt "dementes") berücksichtigt. Wenn das nämlich eine Andeutung des Ennius-Zitates enthält (das Wort "antehac" taucht bei Horaz sonst nirgends auf), dann ist die Lösung recht eindeutig - aber natürlich könnte derjenige, der "ruina" geschrieben hat, auch an Horaz gedacht haben .... Ich habe jedenfalls nicht den Eindruck, dass die anderen Handschriften wesentlich bessere Vorschläge zu bieten haben, und "uietae" als Konjektur ist doch sehr weit hergeholt. uiaeque ist zwar prinzipiell besser, aber irgendwie immer noch unbefriedigend.

Alle Lesarten findet man übrigens HIER noch einmal ganz gut erläutert.

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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon Zythophilus » Di 8. Apr 2014, 23:26

In den Zusammenhang der Stelle, zumindest wie Appius bzw. Cicero das Zitat verwenden, passt m.E. gut Quirites als Vokativ.
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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon Zythophilus » Mi 9. Apr 2014, 06:30

Möglich wäre noch ein asyndetisches ruere am Schluss.
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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon RM » Mi 9. Apr 2014, 08:48

Jetzt hätte ich aber doch gerne gewusst, ob das "Antehac ... dementis ruinas" von Horaz etwas mit der Lesart "Antehac dementi ... ruina" bei Ennius/Cicero zu tun haben könnte und wie dieser Anklang zustande kam.

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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon RM » Do 10. Apr 2014, 18:45

Und? Ablehnung? Zustimmung? Neutralität? Neue Ideen?

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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon Zythophilus » Do 10. Apr 2014, 19:37

Die Lesart dementi ist tatsächlich ein paar Mal belegt, aber ruina nur selten. Für mich ergibt das den Eindruck, dass hier jemand, der dementi vor sich hatte, bewusst etwas dazu Passendes suchte, da uia am Schluss des Hexameter nicht stehen kann.
In der Horazstelle mag ein Anklang an Ennius enthalten sein, aber vielleicht ist es gerade diese Ähnlichkeit, die die Ergänzung ruina plausibel erscheinen ließ.
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Re: quo mentes sese flexere viai?

Beitragvon RM » Do 10. Apr 2014, 20:19

Das Problem, das ich sehe, ist, dass nach Ottos Ausgabe "dementi" bei weitem überwiegt. "uia" passt metrisch natürlich nicht dazu. Andrerseits wäre es bei "flexere ruina" durchausmöglich, dass der Schreiber das sich wiederholende "r" zu Beginn von ruina überlesen haben könnte und nur "uina" oder "uia" schreibt. Wie man den Vers mit "dementi" und "uia*" irgendwie in Ordnung bekommt, ist ganz unklar, aber deswegen das sehr selten bis gar nicht überlieferte "dementes" für "dementi" zu setzen und dann noch aus dem "uia" irgendetwas machen zu wollen, weil man dem "ruina" nicht traut, halte ich dann doch für etwas gewagt. Wenn ich Otto richtig interpretiere, der auch eine sehr gute Übersicht über die Handschriften und gedruckten Ausgaben liefert, scheinen d2 und d4 aber nicht eindeutig von den bekannten älteren Handschriften abgeschrieben zu sein.
Kannten die Schreiber des 15. Jhdt. den Horaz gut genug, um sich eine Interpolation zu "ruina" auszudenken?

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