Klarets Glossar.

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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Re: die Perspektive der Klassischen Philologie

Beitragvon Prudentius » Fr 17. Apr 2015, 10:20

Ich gehöre ja auch zu der Zunft, aber mir kommt vor, einige von euch sind in der Binnenperspektive dieser Philologie befangen, das führt zu einer Verbissenheit, ja sogar Humorlosigkeit :-D .

Niemand versucht, Claret in die Reihe der l. Literaten zu stellen; aber wenn man über "Wert" diskutiert, muss man sich begrifflich darüber klarwerden; "Wert" ist kein Absolutum, er bemisst sich je nach dem Rahmen, in den man den Gegenstand hineinstellt; "bewerten" bedeutet, einen Gegenstand in ein System hineinstellen, in dem eine entsprechende Rangordnung gültig ist. Den Kl. Philol. ist diese Systemeinordnung nicht so vertraut (wenn ich mal so sagen kann), die Aussage "x ist wertvoll" ist unvollständig, es muss heißen "x ist wertvoll für y", oder "x ist wertvoll in dem und dem System".

Um konkreter zu werden: Claret schreibt im Böhmen des 14. Jh., er richtet sich an seine Amtsbrüder, die Kleriker, die vom L. nur soviel wissen, dass sie eine l. Messe lesen können, d.h. aus dem Missale ablesen; sie haben keine gymnasiale Ausbildung gehabt, haben keine Wörterbücher gehabt, Grammatiken weiß ich nicht; sicher haben sie keinen Atlas gehabt (hallo Geograph, beachte es!), auch gar keine Möglichkeit, die Richtigkeit von irgendwie gehörten Namen zu überprüfen.
Claret versucht, innerhalb dieses Umfeldes eine Neudimensionierung des Lateinverständnisses anzuschieben; er will nur Räume öffnen, Pflöcke einschlagen, wo einmal etwas Solides gebaut werden könnte; er führt vor, wie Verse aussehen könnten, und einige sind ihm auch gelungen.

Jetzt habe ich mich verausgabt :-D , ich denke auf dem Fahrrad weiter darüber nach,

lgr. P. :)
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon consus » Fr 17. Apr 2015, 12:16

Amicis suis s. p. d.
Ut hanc de iniucunda Clareti dicendi consuetudine disputationem hilaritate conspergam fieri non potest quin animos vestros convertam in Epistulas obscurorum virorum; His enim litteris culinariam quae vocatur Latinitatem subtilissime ludibrio haberi facile intellegetis. Ut exemplum proferam: legite modo ep. 1, 34!
:lol:
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon Zythophilus » Fr 17. Apr 2015, 16:22

Prudentius hat geschrieben: Klaret wendet sich an ... Kleriker, die vom L. nur soviel wissen, dass sie eine l. Messe lesen können

Dafür ist die intendierte Form, auch wenn der Autor ihr nicht gerecht wird, denkbar ungeeignet. Wer einen lateinischen Text nur halbwegs lesen, ohne etwas davon zu verstehen, kann, für den ist das Werk nichts, da er nichts findet, und auch Hexameter, wie stümperhaft sie auch sein mögen, sind für ein solches Publikum mehr Hindernis als Gewinn.
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon Zythophilus » Fr 17. Apr 2015, 16:37

Auch für den Mediziner bzw. Medizinhistoriker gibt es etwas: Das Kapitel De medicina - ich weiß nicht ob die Einteilung vom Autor stammt - umfasst 40 Zeilen, von denen die ersten elf tatsächlich medizinische Fachbegriffe bieten. Eine Frage an den Arzt: Was bringt es uns zu wissen, dass Claret, übrigens u.a. selber Arzt, diese relativ wenigen Begriffe und ihre tschech. Entsprechungen kannte?
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon Prudentius » Sa 18. Apr 2015, 15:54

Hallo Zytophile,

ich versuche nochmal, mich anders auszudrücken:

"Eine Frage an den Arzt: Was bringt es uns zu wissen, dass Claret, übrigens u.a. selber Arzt, diese relativ wenigen Begriffe und ihre tschech. Entsprechungen kannte?"

Die Frage ist nicht, ob Claret diese Begriffe kannte, auch nicht, was es uns bringt, sondern die Frage ist: wie groß ist der Relevanzbereich des Lateins? Der Kleriker, Arzt, Apotheker kennen das L. als ihre spezifische Fachsprache; Claret will jetzt diesen Anwendungsbereich des L. neu dimensionieren, d.h. ausdehnen auf den gesamten Bereich des Wissens, das sieht man ja an der Reihe der Kapitelüberschriften; von trivium und quadrivium ist die Rede. Es dringt von außen der neue Geist des Humanismus, d.h. der Lateinbegeisterung, nach Böhmen hinein; also so versuche ich, mir die Sache zurechtzulegen.

"Dafür ist die intendierte Form, auch wenn der Autor ihr nicht gerecht wird, denkbar ungeeignet."

Vllt. erscheint sie geeigneter, wenn wir uns erinnern, dass Lehrgedichte in der Antike immer diese Form hatten, angefangen mit Hesiod, Parmenides, Empedokles; Lukrez, Vergil. Vllt. war das einfach eine Vorgabe für Claret, oder er empfand es so.

Jedenfall erhoffe ich eine Medaille "DEFENSOR CLARETI" :-D ,

lgr. P.
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 18. Apr 2015, 20:23

:thumbup:
Genau, Prudenti, ich stimme dir voll zu. Es ist der Prager Frühhumanismus, der hier beginnt und wichtig ist für die weitere Entwicklung. Übrigens bist du ein Altphilologe ohne Überheblichkeit, du bist nicht im Elfenbeinturm :-D , was ich sehr begrüße, weil das hier nichts zu suchen hat.
Von mir bekommst du die Medaille!
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon Prudentius » So 19. Apr 2015, 10:51

Später halte ich noch eine Dankesrede für die Medaille, aber bedenkt, der böhmische Lateininteressierte konnte aus dem Glossarius eine Menge lernen, es war ja eine Art Wortkunde oder Vokabelverzeichnis, nur sind das für uns Textformen, die in ein gut ausgebautes didaktisches System eingefügt sind, von dem ja damals noch nichts vorhanden war. Und die Verslehre gehörte nicht zum Inhalt, vllt. wollte Claret seinen Schülern eine Art Traumvision bieten, wie ein Lehrgedicht aussehen kann.

Hallo Conse, der Vergleich mit satirischen Texten ist interessant, aber hier fehlt der typische satirische Kontrast zwischen zwei Ebenen; bei den Dunkelmännerbriefen hebt sich deren Dummheit von der Lateingelehrsamkeit der Humanisten ab; das war später und woanders.

Schönen Sonntag,
lgr. P. :)
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon Zythophilus » So 19. Apr 2015, 11:06

Verstehe ich das richtig? Claret wendet sich an Kleriker, die gerade im Stande sind, lateinische Messformulare abzulesen, und schreibt ein Lehrgedicht in lat. Hexametern. Die einfacheren Geistlichen, die oft auch die Landwirtschaft ihrer Pfarre betrieben, lasen doch eher etwas wie Columella und freuten sich mehr an den Hexametern des 10. Buches.
Clarets Werk mag zeitlich mit dem Frühhumanismus zusammentreffen, und vielleicht rührt seine Begeisterung für die Sprache daher, aber diese Begeisterung macht die mangelnden Fähigkeit im Bereich des lateinischen Lehrgedichts nicht wett. Wer zur Zeit der Weimarer Klassik voller Begeisterung für Goethe etwas mit falscher Orthographie in eine Wand ritzte, gehört deswegen auch nicht zur Weimarer Klassik.
Wer meint, dass formale Kritik an einem Werk etwas mit einem Elfenbeinturm zu tun habe, erkennt nicht, dass es auch für Literatur durchaus etwas wie Qualitätskriterien gibt. Sprachliche Richtigkeit sollte eine Voraussetzung sein, dann gibt es durchaus etwas wie Stil, den man beurteilen. Bei einem dichterischen Werk ist es normalerweise keine Frage, dass die Verse metrisch korrekt sind. Ein Hexameter ist nicht nur die Anordnung der Silben, und Claret schafft im Normalfall nicht einmal korrekte Verse, von einem eleganten Versbau rede ich gar nicht.
Meine Überraschung, dass die Sprache der Wissenschaften im ausgehenden Mittelalter Latein ist, hält sich in Grenzen. Wer Clarets Werk dafür braucht, hat eine Wissenslücke, und wenn man meint, dass Idee eines solchen Glossars vernünftig ist, findet man schnell heraus, dass die Form es unbrauchbar macht.
Natürlich sind die Konsequenzen nicht dieselben, aber jemand, von der Medizin und einer speziellen medizinischen Schule begeistert, die Medizin mit denselben Fähigkeiten, die Claret auf dem Gebiete des lat. Lehrgedichts besitzt, betreibt, ist eher für die Kriminalhistorie interessant.
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon Medicus domesticus » So 19. Apr 2015, 13:18

Wie schnell man Fehler machen kann, hast du gerade bei deinem neuesten Spottgedicht zum Thema gesehen... ;-)
Mittelalterliche Texte sind häufig fehlerhaft, aber die Zeit war halt damals so. Klaret wollte sich sicher als Gelehrter der Prager Universität für die Belebung des Lateins in Verknüpfung mit seiner Muttersprache einsetzen. Wir reden uns leicht, weil wir in einer ganz anderen Zeit leben mit vielen Möglichkeiten der Quellensuche/Internet usw.
Trotzdem ist die Erforschung der MA-Texte wichtig und wird auch in den Instituten für MA und Neulatein ohne Vorbehalte vorangetrieben.
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon Zythophilus » So 19. Apr 2015, 13:57

Der Fehler bestand allerdings prinzipiell nur in der Vertauschung zweier Worte. Ich änderte es dann insofern stärker, als ich es vermeide, einem kurzen Vokal am Ende eines Wortes ein Wort, das mit mehr als einem Konsonanten beginnt und eine Positionslänge erzeugen würde, folgen zu lassen. In nachklassischer Lyrik ist das aber durchaus üblich, sodass pagina sponte sua, wie ich es ursprünglich schreiben wollte, schon zulässig wäre. Es muss dir doch aufgefallen sein, dass es nur eine Vertauschung, also etwas anderes als Clarets Fehler, war und die Folge pagina sponte sua möglich ist.
Hätte ich vor, so etwas in Buchform zu edieren, wäre mir das vorher aufgefallen; mir war es prinzipiell auch recht schnell selber klar, doch wollte ich mein Mittagessen nicht dafür unterbrechen.
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon Tiberis » So 19. Apr 2015, 14:22

Zythophilus hat geschrieben:In nachklassischer Lyrik ist das aber durchaus üblich

nicht nur dort. auch bei Ovid oder Horaz erzeugt anlautendes sp- , st- , sq- u.dgl. in der verssenkung meist keine positionslänge (Crusius, Röm. metrik, 7). pagina sponte sua ist also vollkommen korrekt.
und inhaltlich kann ich dem gedicht ohnehin nur vorbehaltlos zustimmen! :thumbup:
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon Medicus domesticus » So 19. Apr 2015, 14:47

@Zythophilus:
Du hattest den Vers mit sponte pagina sua begonnen, das war auf jeden Fall falsch, außerdem hattest du noch ipse als Bezug, was auch falsch war.
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon Zythophilus » So 19. Apr 2015, 14:58

Ja, die Wörter waren vertauscht - das hast du doch sicher bemerkt, dass pagina sponte sua metrisch passt - und ipse war insofern übrig geblieben, als zuerst das Wort liber in der ersten Vershälfte stand, und die zweite Hälfte metrisch ja weiterhin korrekt war. Passiert dir so etwas bei der Arbeit an einem Vers nie? In einem veröffentlichen Buch wäre es peinlich, in einem Forum sind solche Fehler wie auch Tippfehler an der Tagesordnung.
Vertauschungen von Wörtern, die beim Abschreiben passieren können, sind wohl nicht das Problem bei Claret, und sonstige Verschreibungen spreche ich nicht an, wenn ich an seinen Versen Anstoß nehme.
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon Medicus domesticus » So 19. Apr 2015, 15:02

Das Witzige an der Sache war für mich eigentlich nur, dass du ein Spottgedicht zum Thema verfasst und dann aber selbst einen Versfehler begangen hast. ;-)
Aber eine gute Sache haben deine Disticha gebracht: Ich habe mir daraufhin mal wieder Catulls Gedicht Nr. 36 angeschaut. :-D
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Re: Klarets Glossar.

Beitragvon consus » So 19. Apr 2015, 18:29

Proximis nuntiis lectis timeo ne immoderata haec et satis litigiosa de obscuro illo clerico disputatio non ante ad finem perducatur quam Kalendae venerint Graecae. Praeterea hoc mihi dicendum esse censeo: Caveamus ne ex corrigendo levi sane alterius sodalis mendo quandam capiamus voluptatem!
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