Catull 99

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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Catull 99

Beitragvon Penthesilea » Di 14. Mai 2013, 18:08

Cari sodales

Könnt Ihr mir wieder bei einem Catull-Gedicht weiterhelfen? Mir geht es erneut um die genaue grammatikalische Analyse. Vielen Dank im Voraus:

1)
uerum id non impune tuli namque amplius horam
suffixum in summa me memini esse cruce
dum tibi me purgo nec possum fletibus ullis
tantillum uestrae demere saeuitiae.

a) amplius horam: wie passt das genau zusammen, wenn es "länger als eine Stunde" heisst? Müssten dann nicht horam im ablativus comparationis stehen? horam scheint mir ein Akkusativ der zeitlichen Erstreckung sein, aber dann weiss ich nicht, wie amplius hier hinein passt.

b) Steht hier memini + ACI? Also: memini... me in summa cruce suffixum esse? "Ich erninnere mich, dass ich länger als während einer Stunde an der Spitze eines Kreuzes befestigt worden war?"

c) dum... purgo: absolutes Tempus, nehme ich an. Aber possum könnte doch durchaus im Präterit stehen, oder sehe ich da etwas falsch. Ist nicht gemeint: Während ich mich bei Dir entschuldigte, konnte ich aber nicht durch irgendwelches Weinen ein klein wenig eures Zorns wegnehmen. Oder doch alles im Präsens?

2)
nam simul id factum est multis diluta labella
guttis abstersti
omnibus articulis
ne quicquam nostro contractum ex ore maneret
tamquam commictae spurca saliua lupae.

a) Stehen diese Ablativi asyndetisch da? "... hast du dir mit vielen Tropfen und mit allen Fingern deine Lippen abgewischt." Oder wäre dies auch möglich: "... du hast dir die mit vielen Tropfen befeuchteten Lippen abgewischt"? So wäre der Sinn ziemlich anders...

b) ne quicquam ... contractum ... maneret: damit nicht irgendetwas Zugezogenes .... verbleibe?
Oder kann ich das nicht so übersetzen?

Vielen Dank für Eure Hilfe im voraus!
Penthesilea
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Re: Catull 99

Beitragvon Sokrates » Di 14. Mai 2013, 19:08

salve Penthesilea

1) nach diesen Komparativen kann auch (als "appositionelle Gliederung) der entsprechende Kasus, in diesem Falle genau der vorgeschlagenen Akk. der zeitl. Ausdehnung, stehen, was auch gut zu der Intention der "langen Qual" passt, cf. Menge § 367, 6c!

memini mit AcI, das geht klar.

Ja, das dum hat hier die Bedeutung während, und daher auch absolutes Tempus, zumal auch der Vorgang vergangen ist, aber betrachte einmal die sprachpsychologisch interessante Abfolge vom resultativen Perfekt tuli über das stative Perfektpräsens memini zum Präsens im dum Satz (das natürlich aus anderen sprachhistrorischen Gründen steht!)

2)

nein, ich würde die nicht zusammen asyndetisch verbunden nennen, sondern sie einzeln übersetzen, zumal guttis klar zu diluta gehört: sich die von vielen Tropfen aufgeweichten/verseuchten Lippen mit allen Fingern abwischen

die grammatischen Zusammenhänge beim constructum sind ja klar, ex würde ich zum Partizip eher rechnen als zu maneret, also contrahere= zustande bringen, verursachen, sich zuziehen?? aber mir fällt auch keine brauchbare Bedeutung ein, obwohl ja klar ist, was gemeint ist...

Ich hoffe, das bringt dir was,

LG
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Re: Catull 99

Beitragvon Prudentius » Di 14. Mai 2013, 20:18

Hallo,

aber dann weiss ich nicht, wie amplius hier hinein passt.


Die Umgangssprache jongliert manchmal mit der Grammatik.

länger als während einer Stunde


"über eine Stunde", eine gute Stunde.

an der Spitze eines Kreuzes befestigt worden war?"


einfacher: "hing".

Während ich mich bei Dir entschuldigte, konnte ich aber nicht durch ...


Satzkonstruktion verfehlt: das neque ist beiordnend; kein HS; purgo und possum sind gekoppelt.

Lgr P. :)
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Ablativproblem "guttis dilata labella"

Beitragvon Willimox » Di 14. Mai 2013, 21:29

Salvete!

(1) Der Text: Kussraub und Hermeneutik

Bild
Hier noch einmal carmen 99:

SURRIPUI tibi dum ludis, mellite Iuuenti
suauiolum dulci dulcius ambrosia.
Verum id non impune tuli, namque amplius horam
suffixum in summa me memini esse cruce
dum tibi me purgo nec possum fletibus ullis
tantillum uestrae demere saeuitiae.
Nam simul id factum est multis diluta labella
guttis abstersisti omnibus articulis.
ne quicquam nostro contractum ex ore maneret,
tamquam commictae spurca saliua lupae.
praeterea infestum misero me tradere amore
non cessasti omni excruciarique modo,
ut mi ex ambrosia mutatum iam foret illud
suauiolum tristi tristius elleboro.
quam quoniam poenam misero proponis amori
numquam iam posthac basia surripiam.


(2) Die "Guttis-Passage"

Fokussieren wir die Passage im letzten Drittel:

nam simul id factum est multis diluta labella
guttis abstersti omnibus articulis


Arbeitet man "nur" mit dem Wörterbuch, verzichtet man also auf Kommentare - etwa den von Kroll, der im Internet schnell zugänglich ist - und verzichtet man damit auf die vielen kompetenten Vorentscheidungen der Experten, so hat man es mit Valenzproblemen zu tun. Kurz und gut: Es geht darum, ob "guttis", ein Ablativ wohl, im Valenzplan von diluere oder von abstergere enthalten ist. Und wenn in beiden Verben, welche Einbettung dann im Kontext den besseren Sinn macht.

In der ersten Phase des Lesens mögen verschiedene Verstehensmöglichkeiten bei "guttis" aufleuchten:
Wir skizzieren hier drei:

a)
Ist mit guttis Wasser gemeint, zur Säuberung der kussbefleckten Lippen?
Das würde implizieren, der Juventiusknabe hat einen ersten Säuberungsakt vorgenommen.
Und dann das säubernde Wasser abgeschüttelt oder ähnliches ... "guttae" ist ein Ablativ des Mittels eingebettet in das Skript von diluere.

Ein gewisser Widerspruch zu dem "simul id factum est", das ja eine unmittelbare Nähe signalisiert zwischen "ekligem Kuss" und Reinigungsvorgang, wohl im Verlauf der langdauenden -Entschuldigungungsversuche (amplius horam: länger als für eine Stunde) des Lyrischen Ichs...

b)
Oder ist durch das Weinen des reuigen Kussräubers (fletibus ullis) eine Sekundärbenetzung entstanden, die es jetzt zu bereinigen gilt? Ähnlich wie in (a) ist hier "guttis" im Stellenplan von "diluta" eingebettet. Grammatisch sicher möglich, aber semantisch oder - sit venia hermeneutico verbo - lebensweltlich?

Das würde ja implizieren, der Knabe habe einen weiteren körperlichen Annäherungsvorgang zugelassen - angesichts seiner Wut oder der typischen Wut dieser Jeunesse (vestra saevitia) nicht ganz, nicht sehr wahrscheinlich.

c)
Kommen wir zur "Lesart" abstergere guttis et articulis (mit Tropfen und allen Fingern etwas abwischen oder abtrocknen, dann auch vertreiben". Also der These, dass zwei Ablative sich in das Verb "abstergere" einklinken (lassen).

Man erkennt: die metaphorisch-metonymische Lesart "vertreiben" lässt sich vielleicht halten. Das würde voraussetzen: Die Lippen des Jünglings sind durch den Kuss - in seiner Perspektive - "diluta" ("aufgeweicht" und damit "besudelt"). Mit reinem Wasser und dann mit allen Fingern wird das Kussergebnis und der Kuss in die "Vergessenheit" geschickt und "unschädlich" gemacht, allerdings so ostentativ, dass der Kussräuber gedemütigt und auf Dauer ("memini") sich deklassiert fühlen muss.

Gegen diese Lesart spricht vor allem das Argument der Grundbedeutung: Ein "Abwischen" erfolgt schon auch mit Flüssigkeit als Hilfsmittel, aber ein "Abtrocknen" setzt eher Flüssiges voraus, das nun beseitigt wird. Außerdem ist der Übergang bei "diluta" von "aufgeweicht" zu "durch den Kuss und seinen Speichel aufgeweicht" eher schwierig. Und noch schwieriger ein durch Speichelflüssigkeit aufgelöster oder gereinigter Lippenmund. Es geht ja wohl eben nicht darum, dass der Kuss feucht und als Reinigung zu sehen ist.

(3) Vorläufiges Fazit

Somit ist dann Lesart (c) nicht recht einleuchtend. Lesart (a) ist gegenüber (b) wahrscheinlicher und ihr gewisser Widerspruch zu simul kleiner als der Handlungswiderspruch, der in (b) anzusetzen wäre.

Wir haben im lyrischen Text einen zweifachen Reinigungsvorgang zu sehen bekommen, erst agiert der Knabe mit Wasser, dann mit den Fingern, die das Wasser "abstreifen". Eine demütigend-offene, intensiv-widerwillige, apotreptische Geste ...... und - ein neuer Aspekt - sie wird rückgebunden - im Vergleich - an die imaginierte Beschmutzung durch eine Fellatio-Hure.

Wobei hier leicht absurd ein passiver Anteil des Kussräubers akzentuiert wird ...... Ein Rollenwechsel. der zu neuen Unsicherheiten in der Lesartfindung/Verstehensphase führt, wohl aber zu stimulierenden Unsicherheiten ....

Was ist hier los? Ein absurder Vergleich, der auf absurde Abwehrmaßnahmen, ungerechtfertigt, unpassend, übertrieben ... hinweist?

Bild


(4) Didaktische Reduktion durch Einlassen auf den Text (?)

Kroll - siehe Link unten - arbeitet bei seinen Vorentscheidungen mit Parallelstellen bei Catull und im Corpus antiker (Liebes-)Rhetorik. Ein verdienstvolles Prozedere, gewiss. Umso interessanter vielleicht, was bei einer eher "naiven" Vorgehensweise ein Student oder LK-Schüler - nur mit dem Lexikon bewaffnet - auf seinem Kriegspfad durch den Text an Spuren lesen muss, bis er - vielleicht - in den Genuss einer stimmig erscheinenden Lösung kommt.

http://tinyurl.com/d3zjvcv

P.S.

Hier noch ein besonderes Schmankerl (honigsüßer ludis :hammer: ) - möge die hermeneutische Muse, ne die Basisgrammatik-Muse den Übersetzer kopfnussmäßig treffen:

Ich raubte dir, während du spieltest, honigsüßer Iudis,
Küsse, süßer als süße Götterspeise. Aber ich habe
dieses nicht straflos getan: denn ich erinnere mich, dass ich mehr als eine Stunde lang hoch oben am Kreuz
geheftet war, während ich mich bei dir entschuldigte und nicht durch irgendein Weinen von mir ein bisschen
von deinem Zorn wegnehmen konnte. Denn sobald das geschehen ist, wischtest du sie, nachdem die Lippe
mit vielen tropfen abgespült war, mit allen Fingern ab, damit nicht irgendetwas, das aus meinem Mund
bekommen worden ist, bleibe, so wie der säuische Speichel einer besudelten Hure. Außerdem hörtest du
nicht auf, mich Armen dem feindlichen Armor zu übergeben und mich auf jede Art zu quälen, so dass mir das
sich aus der Götterspeise verwandelte Küsschen widerlicher war, als widerlicher Nieswurz. Da du ja diese
Bestrafung der unglücklichen Liebe vorschlägst, will ich dir niemals mehr in Zukunft heimlich Küsse rauben.


http://www.latein-lk.de/Texte/Catull/catull_99.htm

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Re: Catull 99

Beitragvon Penthesilea » Do 16. Mai 2013, 09:47

Vielen, vielen Dank für all die tollen Hinweise!
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