Digestenstelle

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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Beitragvon iurisconsultus » Di 31. Dez 2013, 16:19

Hallo liebe Lateinanhänger! Ich bin Jurist (siehe cognomen), neu hier im Forum und habe mich schon im Studium gefragt, warum in nachstehender Digestenstelle im Original von Ulpian "haberet" und nicht "habet" steht. Im Corpus Iuris Civilis fand der Rechtsgrundsatz mit "habet" Eingang. Ich bin allerdings des Lateinischen auch nur bedingt mächtig. 😉 Vielleicht kann mich jemand aufklären?!

Dig. 50.17.54

Ulpianus 46 ad ed.

Nemo plus iuris ad alium transferre potest, quam ipse haberet.

P.S. In Österreich in § 442 S 3 ABGB positiviert.
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Re: Digestenstelle

Beitragvon romane » Di 31. Dez 2013, 16:40

der quam-Satz stellt einen Relativsatz dar, bei dem das Relativpronomen fehlt.
Es handelt sich also um einen Relativsatz mit dem Konj. - konsekutiver Nebensinn.
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Re: Digestenstelle

Beitragvon Oedipus » Di 31. Dez 2013, 17:31

Nemo plus iuris ad alium transferre potest, quam ipse haberet.


Niemand kann mehr Recht(e) an/auf einen anderen übertragen, als (dass) er (es/sie) selbst hatte.

(dass) - zeigt den konsekutiven Nebensinn
(es/sie) - zeigt das ausgelassene Pronomen (im Singular oder Plural, je nachdem, wie man "plus iuris" übersetzt).

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Re: Digestenstelle

Beitragvon Prudentius » Di 31. Dez 2013, 17:34

Dann fragt man sich: warum Imperfekt Konj.?

Vllt. kann es auch der "überschießende Irrealis" sein, den wir allerdings mehr im D. als im L. kennen: "Ich hätte gedacht", wenn ich wirklich gedacht habe.
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Beitragvon consus » Di 31. Dez 2013, 17:57

Prudentius' abweichender Meinung schließe ich mich an, und zwar aus folgendem Grund:
potest] hat hier irreale Bedeutung gemäß dem lateinischen Sprachgebrauch, dass die lateinischen indikativischen „Ausdrücke mit der Bedeutung ‚können, müssen, sollen, dürfen usw.‘“ im Deutschen oft irreal zu deuten sind, „da die Irrealität des abhängigen Infinitivs auf den Begriff des Könnens, Müssens, Sollens usw. verschoben ist. Das Lateinische setzt hingegen den Indikativ, um die Wirklichkeit der Aussage hervorzuheben.“* Beispiele: possum = ich könnte / poteram = ich hätte können usw.
haberet] Dieser Konjunktiv Imperfekt drückt auf Grund dieser Überlegung den Irrealis der Gegenwart aus.
Die Übersetzung wäre dann eigentlich: „Niemand könnte mehr … übertragen, als er selbst hätte.“

[So, jetzt geht’s aber zur Silvesterparty…]
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* Burkard-Schauer, Lehrbuch der lat. Syntax und Stilistik, 5. Aufl. Darmstadt 2012, § 106, 2 (a).
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Re: Digestenstelle

Beitragvon iurisconsultus » Di 31. Dez 2013, 18:04

Vielen lieben Dank für die raschen Antworten! Prudentius' und consus' Ausführungen decken sich auch mit § 442 S 3 ABGB: "Überhaupt kann niemand einem andern mehr Recht abtreten, als er selbst hat."

Ihr habt mir sehr geholfen. Wünsche allen einen guten Rutsch aus Linz, Oberösterreich.

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Re: Digestenstelle

Beitragvon Oedipus » Di 31. Dez 2013, 18:56

Prudentius' und consus' Ausführungen decken sich auch mit § 442 S 3 ABGB: "Überhaupt kann niemand einem andern mehr Recht abtreten, als er selbst hat."


Das stimmt so allerdings nicht.

Der Rechtsgrundsatz enthält keinen Konjunktiv mehr:

Nemo plus iuris ad alium transferre potest, quam ipse habet.

habet = Indikativ Präsens

Den Konjunktiv Imperfekt "haberet" kann ich wirklich nicht erklären, deshalb schließe ich mich Prudentius und Consus an!

Das wars für dieses Jahr :)
Bis bald.
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Re: Digestenstelle

Beitragvon Laptop » Di 31. Dez 2013, 19:57

Erklärungsoptionen:
[_] a) …
[_] b) …
[_] c) …
[x] d) schlechtes Latein
;-)
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Re: Digestenstelle

Beitragvon iurisconsultus » Mi 1. Jan 2014, 00:40

Tja, dann war meine bohrende Verwirrtheit ob des Konjunktiv Imperfekts zumindest nicht unbegründet. Vielen Dank noch mal. Der Countdown läuft.

Valete!
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Re: Digestenstelle

Beitragvon Tiberis » Mi 1. Jan 2014, 01:42

man müsste schauen, ob die überlieferung (haberet) unstrittig ist. ich habe leider keine textkritische ausgabe zur hand.
steht in den besten HSS tatsächlich haberet, könnte ich mir am ehesten einen potentialis der vgh. vorstellen (= haben hätte können). nachklassisch kommt der durchaus auch in der 3. pers. im nebensatz vor.
man müsste zur abklärung auch den kontext beachten, aber dazu bin ich JETZT wirklich zu faul. :D
irrealis oder konsekutivsatz machen m.e. nicht wirklich sinn.

wie auch immer: PROSIT NEUJAHR !!!
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Beitragvon consus » Mi 1. Jan 2014, 12:59

Salvete, amici!
Tiberis‘ Gedanke zur Deutung des „haberet“ (Potentialis der Vergangenheit) ist bedenkenswert. In der mir hier zu Hause zugänglichen Ausgabe des Corpus iuris civilis von Mommsen (4. Aufl., Bln 1896) wird zu D. 50, 17, 54 keine abweichende Lesart angegeben. Anderenorts werde ich die neueste Auflage einsehen. Wie auch immer, Wolfgang Kunkel schreibt in seiner Römischen Rechtsgeschichte (Köln, Wien 1990, S. 155) Folgendes:
Grammatische oder stilistische Unebenheiten ... lassen sich sehr oft glaublicher aus bloßen Textkürzungen oder aus Mängeln der handschriftlichen Überlieferung, vor oder selbst nach Justinian, erklären. Auch hat man in der älteren Interpolationenkritik an den Stil und die grammatische Korrektheit der klassischen Texte bisweilen übertriebene Anforderungen gestellt und dabei zu Unrecht die goldene Latinität, wenn nicht gar die Regeln moderner Schulgrammatik zum Maßstab genommen.
Lassen wir uns Philologen das von dieser Kapazität auf dem Felde des römischen Rechts ins Stammbuch schreiben! Aber reizvoll ist das Problem „haberet“ halt doch …
Annum novum vobis precor faustum felicem fortunatumque.
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Re: Digestenstelle

Beitragvon iurisconsultus » Mi 1. Jan 2014, 14:22

Richtig schön, die vielen Gedanken zu lesen. Es ist eigentlich schon viel mehr gesagt worden, als ich zu hoffen wagte, zumal am Ausgang des Jahres 2013. Aber vielleicht noch so viel: Die Digestenstelle hat den Erwerb dinglicher Rechte vor Augen (insbes des Eigentumsrechts). Diese können - sowohl nach römischem als auch österr geltendem Recht - (derivativ) erworben werden, wenn der Verkäufer vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses (causa) bis zur Übergabe (traditio) das fragliche dingliche Recht besitzt. Eben das macht das "haberet" so eigentümlich. Man würde vielmehr - wie im C. I. C - "habet" erwarten oder allgemeiner einen indikativen Sinn. Auf "haben hätte können" sollte die Übersetzung (sofern sich das mit den Regeln der Grammatik in Einklang bringen lässt) nicht lauten, weil die bloße Möglichkeit des Rechtsbesitzes für deren Übertragung nicht hinreicht.

Schönen Feiertag
Markus
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D. 50, 17, 54

Beitragvon consus » Mi 1. Jan 2014, 14:58

Salve, Tiberis! Salve, Marce!

Die teleologische Auslegung von D. 50, 17, 54 führt m. E. zweifellos zu dem Grundsatz, der im ABGB Aufnahme fand.

Den wohl eindeutig von Mommsen überlieferten Wortlaut mit „haberet“ (also nicht „habet“*) vor Augen findet allerdings der Philologe im Unterschied zum Juristen keine Ruhe; denn wenn wirklich „haberet“ als Potentialis der Vergangenheit zu deuten ist, bleibt doch die Frage, warum Potentialis gerade der Vergangenheit?

Vielleicht lässt sich die irreale Deutung mit dem angesprochenen Hinweis auf den derivativen Eigentumserwerb verteidigen: Nehmen wir an, dass ein solcher stattgefunden hat! Es kommt zum Rechtsstreit, da von welcher Seite auch immer die Rechtmäßigkeit des Vertrages bestritten wird mit dem Argument, der Veräußerer habe „vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses (causa) bis zur Übergabe (traditio) das fragliche dingliche Recht“ nicht besessen; denn könnte wirklich jemand auf einen anderen mehr Recht übertragen, als er selbst besäße? Doch wohl niemand!
Neujahrsgrüße aus dem Rheinland :stretch: !
___________________________________________________________________________________________
* Erwin Schaar liest in seinem zweisprachigen Werk „Römisches Privatrecht“ (Zürich, Stuttgart 1960, S. 340) „habet“ und befindet sich damit auf dem Pfad der telologischen Auslegung.
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Re: Digestenstelle

Beitragvon iurisconsultus » Mi 1. Jan 2014, 15:55

Hallo Tiberis und consus!

Müsste es unter der Prämisse eines Potentialis der Vergangenheit (gleichsam in einer Rückschau im Prozess vor dem Prätor [wie Ulpian einer war]) konsequenterweise nicht heißen: "Nemo plus iuris transferre posset, quam ipse haberet"? Übersetzung: "Niemand hätte mehr Rechte übertragen können, als er selbst gehabt hätte"?

Sollte das grammatikalisch unhaltbar sein, verweise ich auf meine bescheidenen Lateinkenntnisse. ;)

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Re: Digestenstelle

Beitragvon Laptop » Mi 1. Jan 2014, 16:11

Man kann den Titel “Digesten” in modernes Deutsch übersetzen mit “Redaktion”, und genau das ist es ja, eine Umformatierung vormals anderslautender Satzgefüge. Dabei haben sich einige Fehler eingeschlichen, die nachzuvollziehen schwer möglich ist, wenn man nicht den Ursprungstext hat.
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