unum habeo adhuc: Avicennae homo volans

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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unum habeo adhuc: Avicennae homo volans

Beitragvon Gustav » Mi 5. Feb 2014, 19:33

egregii amici,
rogo emendare etiam istam meam translationem infra datam. Et apparet mihi segmentum ultimum (a „si autem, in illa …“ ad „… converti ad viam“) difficile esse.
Locum repperi in Avicenna: De Anima Liber sextus de Naturalibus.


Avicenna, de Anima Liber sextus de Naturalibus

Dicemus igitur quod aliquis ex nobis putare debet quasi subito creatus esset et perfectus, sed velato visu suo ne exteriora videret, et creatus esset sic quasi moveretur in aere aut in inani, ita ut eum non tangeret spissitudo aeris quam ipse sentire posset et quasi essent disiuncta membra eius ut non concurrerent sibi nec contingerent sese.

Sagen wir also, dass irgendeiner von uns glauben muss, er wäre gewissermaßen plötzlich erschaffen worden und (aus dem Stand heraus) völlig vollendet (wäre), aber mit seinem Sehvermögen, das zugedeckt ist, (die Augen sind also verbunden) außenliegende Dinge nicht sehen kann und der so geschaffen worden wäre, als würde er sozusagen so in der Luft bewegt werden oder in der Leere, dass ihn die Dichte der Luft nicht berührte, die er selbst fühlen könnte und seine Körperglieder wären sozusagen (so) voneinander getrennt, dass sie nicht zusammentreffen und sich einander nicht berühren.

Deinde videat si affirmat esse suae essentiae: non enim dubitabit affirmare se esse nec tamen affirmabit exteriora suorum membrorum, nec occulta suorum interiorum nec animum nec cerebrum, nec aliquid aliud extrinsecus, sed affirmabit se esse, cuius non affirmabit longitudinem nec latitudinem nec spissitudinem.

Anschließend könnte er sehen, ob er das Sein seines Wesens (als vorhanden) behauptet: er wird nämlich nicht zögern zu behaupten, dass er ist, doch wird er weder das Außensein seiner Glieder behaupten noch das Verborgensein seiner inneren Organe (interiora) noch die Seele noch das Gehirn noch irgendetwas anderes Außenliegendes, aber er wird behaupten, dass er ist, weder wird er dessen Länge behaupten noch dessen Breite noch dessen Dichte (Festigkeit).

Si autem, in illa hora, possibile esset ei imaginari manum aut aliud membrum, non tamen imaginaretur illud esse partem sui nec necessarium suae essentiae.

Wenn aber in ferner Stunde es möglich wäre, dass ihm eine Hand oder ein anderes (Körper)Glied erscheint, stellt er sich dennoch nicht vor, dass das ein Teil von ihm ist und nicht zu den Notwendigkeiten seines Wesens gehört.

Tu autem scis quod id quod affirmatur, aliud est ab eo quod non affirmatur, et concessum aliud est ab eo quod non conceditur.

Du aber weißt, dass das, was behauptet wird, unterschieden ist von dem, das nicht behauptet wird und anderes ist zugestanden worden von dem, was nicht zugestanden wird.

Et, quoniam essentia quam affirmat esse est propria illi, eo quod illa est ipsemet, et est praeter corpus eius et membra eius quae non affirmabat, ideo expergefactus habet viam evigilandi ad sciendum quod esse animae aliud est quam esse corporis;

Und - da ja das Wesen sicher ist zu wissen, was es ist, (und) das ist seine Eigenart - dadurch was jenes (Wesen) ist, ist er selbst und er ist, außer dessen Körper und dessen Glieder, die er nicht erkennt, deshalb besitzt er, nachdem er aufgeweckt worden ist, das Verfahren des Aufwachens zur Erkenntnis, weil das Sein der Seele anders ist als das Sein des Körpers;

immo non eget corpore ad hoc ut sciat animam et percipiat eam; si autem fuerit stupidus, opus habet converti ad viam.

ja vielmehr mangelt es dem Körper nicht daran, dass er die Seele kennen und sie wahrnehmen könnte; wenn er aber unwissend gewesen wäre, hat er Mühe, sich dem Verfahren (des Aufwachens zur Erkenntnis) zuzuwenden.
Zuletzt geändert von Gustav am Di 11. Feb 2014, 18:39, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: unum habeo adhuc: Avicennae homo volens

Beitragvon Prudentius » Do 6. Feb 2014, 17:26

aber mit seinem Sehvermögen, das zugedeckt ist, (die Augen sind also verbunden)


"aber mit verbundenen Augen"

ne exteriora videret,


"damit er nicht sähe", Finalsatz.

in der Leere


"im leeren Raum"

sich einander nicht berühren.


"sich nicht berühren".

könnte er sehen, ob


"solle er überlegen, ob"

wird er weder das Außensein seiner Glieder behaupten


"wird er weder behaupten, dass das, was außerhalb seiner Glieder besteht, existiere..."

dass er ist


"dass er selbst existiert"

weder wird er dessen Länge behaupten noch dessen Breite noch dessen Dichte (Festigkeit).


Relativsatz beachten! "... von dem er keine Längen-, Breitenausdehnung behaupten wird".

in ferner Stunde


in jener Stunde.

es möglich wäre, dass ihm eine Hand oder ein anderes (Körper)Glied erscheint


"es ihm möglich wäre, sich eine Hand vorzustellen,,,"

stellt er sich dennoch nicht vor,


Irrealis!
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Re: unum habeo adhuc: Avicennae homo volens

Beitragvon Gustav » Do 6. Feb 2014, 22:13

Si autem, in illa hora, possibile esset ei imaginari manum aut aliud membrum, non tamen imaginaretur illud esse partem sui nec necessarium suae essentiae.

Wenn aber, in jener Stunde es ihm möglich wäre, sich eine Hand oder ein anderes Körperteil vorzustellen, würde er sich dennoch nicht vorstellen können, dass das ein Teil von ihm oder von den Notwendigkeiten seines Wesens ist.

illa hora --> Lateinische Grammatik, Bayer/Lindauer sagt S. 53, §57,7.3: ... ille weist auf räumlich oder zeitlich Fernes hin:
Bsp.: illi homines = jene Leute, von damals, illis temporibus = in jenen fernen Zeiten. Das schien mir in diesem Fall passender als das einfache 'jene'.

Wenn die Übersetzung so richtig ist, verstehe ich nicht, was er sagen will. Denn wie soll sich einer eine Hand oder ein Bein vorstellen, ohne jemals dergleichen gesehen zu haben. Aber es steht ja nun mal imaginari da. Ich bin etwas ratlos.
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Re: unum habeo adhuc: Avicennae homo volens

Beitragvon Prudentius » Fr 7. Feb 2014, 16:42

Du hast den Irrealis nicht verstanden: dessen Teilsätze sind falsch; es ist ihm also nicht möglich, sich eine Hand vorzustellen, und er erkennt sie nicht als ihm zugehörig.
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Re: unum habeo adhuc: Avicennae homo volens

Beitragvon Gustav » Sa 8. Feb 2014, 10:36

@ Prudentius
Das ist vermutlich richtig, dass ich den Irrealis nicht verstanden habe. Deshalb bitte ich um Hilfe und um eine zuverlässige Übersetzung. Allein komme ich nicht weiter.
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Re: unum habeo adhuc: Avicennae homo volens

Beitragvon Prudentius » So 9. Feb 2014, 10:49

Allein komme ich nicht weiter.


Hallo Gustav,

ich kann ja versuchen, dir eine Hilfestellung zu geben, aber du müsstest ein wenig den Rahmen erkennbar machen, was du überhaupt vorhast, man kann sich ja überhaupt kein Bild machen: bist du ein Schüler, der Sprachübungen macht, ein Student, der ein Referat halten soll, oder ein Habilitand? Man redet so aneinander vorbei.
Die "zuverlässige Übersetzung" musst du dir schon allein erarbeiten, wir können aber helfen. Der Text ist ja hochinteressant, aber einen Avicenna Latinus hat wohl kaum einer von uns hier schon in der Hand gehabt, das lateinische MA. ist ja Neuland für uns, besonders die Scholastik.
Also lass uns mal auf deinen Schreibtisch schauen, dann können wir ja sehen, was sich machen lässt,

lgr. P. :)
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Re: unum habeo adhuc: Avicennae homo volens

Beitragvon Gustav » So 9. Feb 2014, 14:02

Ok. In aller Kürze. Es ist ein rein privates Interesse, was mich leitet. Ich habe in einer Vorlesung (internetmäßig - leider hält mich meine berufliche Verpflichtung davon ab leibhaftig bei einer Vorlesung anwesend zu sein) von dem Gedankenspiel des Avicenna gehört und weil es so einfach konstruiert ist oder warum auch immer man von dem einen angezogen wird von dem anderen aber nicht hat es meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nun habe ich mir den Text (lateinisch - nicht arabisch) besorgt und geglaubt, ich könne ihn mir mit meinen Lateinkenntnissen selbst erschließen. Offensichtlich gelingt es mir nur teilweise und dann auch noch unzureichend. Das Gedankenspiel bei Avicenna wird herangezogen, wenn um die Eigenschaften der Seele und ihrem Verhältnis zum Körper geht. Das was ich zu Anfang eingebracht habe, ist die vollständige Darstellung des Avicenna. Ich kenne eine englische Übersetzung, die allerdings nicht sinnentstellend anders ist als meine nach der Korrektur gebotene - an der gerade erörterten Passage. Offenbar aber bin ich im Abendland aber der einzige, der inhaltliche Probleme mit der Stelle hat. Ich möchte also Gewissheit besonders an dieser Stelle hinsichtlich der Übersetzung haben. Die Darstellung ist textgleich mit der letzten kritischen Ausgabe von 1968/72 und an dieser Stelle gibt es auch keine zweifelhaften Lesarten.
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Re: unum habeo adhuc: Avicennae homo volens

Beitragvon Prudentius » Mo 10. Feb 2014, 10:51

Hallo Gustav,

du hast ja ein erfreuliches Interesse an der Frage, ich denke, dir kann geholfen werden, es sind aber große Schwierigkeiten, einmal mit der Einordnung der Stelle in den Kontext, dann Avicenna allgemein und dann auch noch die Begrifflichkeit des mittelalterlichen Aristotelismus mit seiner langen Geschichte samt arabischen Einflüssen.

Zu der kritischen Stelle:
si autem fuerit stupidus, opus habet converti ad viam.


opus est heißt: es ist nötig; opus habet er hat es nötig; "Wenn er aber blöd gewesen sein sollte, hat er es nötig, sich dem Weg zuzuwenden"; was mit dem "Weg" gemeint ist, steht im vorigen Satz: der Weg des Erwachens zu der Einsicht, dass Seele etwas anderes ist als Körper.

Es soll erst mal genug sein,
bis dann P. :)
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Re: unum habeo adhuc: Avicennae homo volens

Beitragvon Gustav » Di 11. Feb 2014, 09:38

Ich setze noch einmal einen Übersetzungsversuch der Stelle, die mich besonders interessiert, hierhin, denn ich kann nicht glauben, dass sich dahinter eine Raketenwissenschaft verbirgt.

Si autem, in illa hora, possibile esset ei imaginari manum aut aliud membrum, non tamen imaginaretur illud esse partem sui nec necessarium suae essentiae.

Wenn es ihm aber in jener Stunde möglich wäre, sich eine Hand oder ein anderes Körperglied vorzustellen, könnte er sich dennoch nicht vorstellen, dass das ein Teil von ihm und auch nicht (ein Teil) der Notwendigkeiten seines Wesens ist.

partem sui —> das sui bezeichnet den, der sich die Hand oder anderes vorstellt, den also, der gerade dabei ist, sich etwas vorzustellen

Mache ich in der Übertragung einen sinnentstellenden Fehler?

Gruß Gustav
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Re: unum habeo adhuc: Avicennae homo volens

Beitragvon Roxane » Di 11. Feb 2014, 11:39

Hallo Gustav,
zwar habe ich mich schon lange nicht mehr mit Latein beschäftigt, aber vielleicht könnte es auch so sein:

<(wörtlich: ein Teil von ihm oder ein Teil des mit seinem Wesen eng Verbundenen) ..ein mit seinem Wesen eng verbundener Teil>.
siehe Langenscheidt: necessaria, -orum = eng Verbundenes
dagegen Stowasser: necessaria, -orum = Lebensbedürfnisse

Was meinst du?

Schöne Grüße
Roxane
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Re: unum habeo adhuc: Avicennae homo volens

Beitragvon Prudentius » Di 11. Feb 2014, 18:42

dass das ein Teil von ihm und auch nicht (ein Teil) der Notwendigkeiten seines Wesens ist.


Mit vereinten Kräften kriegen wir das schon hin; nimm für sui das Reflexivpronomen: "...dass das ein Teil seiner selbst und auch nicht ein wesentlicher Bestandteil seines Wesens ist".

Avicenna will in dem Beweisgang darauf hinaus, die Unabhängigkeit der Seele vom Leib zu zeigen, die Seele ist in dem Gedankenexperiment unabhängig von den Körperteilen denkbar.

Zu dem Abschnitt:

Tu autem scis quod id quod affirmatur, aliud est ab eo quod non affirmatur, et concessum aliud est ab eo quod non conceditur.
Du aber weißt, dass das, was behauptet wird, unterschieden ist von dem, das nicht behauptet wird und anderes ist zugestanden worden von dem, was nicht zugestanden wird.


"unterschieden ist": verschieden ist. Die 2. Hälfte hast du nicht richtig verstanden: "...und dass das Zugestandene verschieden ist von dem, was nicht zugestanden wird". Hier werden die logischen Hilfsmittel erklärt.

Erstmal genug für heute, wir machen noch weiter!

lgr. P. :)
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Re: unum habeo adhuc: Avicennae homo volans

Beitragvon Prudentius » Mi 12. Feb 2014, 10:35

Et, quoniam essentia quam affirmat esse est propria illi, eo quod illa est ipsemet, et est praeter corpus eius et membra eius quae non affirmabat, ideo expergefactus habet viam evigilandi ad sciendum quod esse animae aliud est quam esse corporis;
Und - da ja das Wesen sicher ist zu wissen, was es ist, (und) das ist seine Eigenart - dadurch was jenes (Wesen) ist, ist er selbst und er ist, außer dessen Körper und dessen Glieder, die er nicht erkennt, deshalb besitzt er, nachdem er aufgeweckt worden ist, das Verfahren des Aufwachens zur Erkenntnis, weil das Sein der Seele anders ist als das Sein des Körpers;


Dieser Absatz ist schwierig, aber du hast ihn nicht in den Griff bekommen. Hauptsatz ab ideo: Wachgerüttelt hat er einen Weg zur Einsicht in die Eigenständigkeit der Seele; voraus geht eine Begründung: weil sein eigenes Wesen unabhängig vom Körper ist.

"Und, da ja das Wesen, dessen Existenz er behauptet, ihm zueigen ist, deshalb, weil es mit ihm selbst identisch ist, und da es außerhalb seines Körpers und seiner Glieder besteht, deren Existenz er nicht behauptet, deshalb hat er also, wachgerüttelt, einen Weg zur wachen Erkenntnis, dass das Sein der Seele verschieden ist vom Sein des Körpers."

Schau es dir in Ruhe an und frage ruhig noch nach!

lgr. P. :)
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