Ein Vergilvers

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Ein Vergilvers

Beitragvon Sapientius » Mi 17. Jul 2024, 09:20

"Incultisque rubens pendebit sentibus uva."


Ich versuche einmal nachzuvollziehen, was wir auf dem langen Wege von den Lauten, Silben, Wörtern, Wortzwischenräumen, Satzteilen und -arten bis zum verstandenen Satz alles machen; es geht ja von einem Chaos von vielem Einzelnen bis zum Kosmos eines Sinnganzen am Ende; das Symbol für die gefundene Sinneinheit steht am Schluss: ".", der Punkt.

Hauptfaktor im Satz ist das Prädikat, das durch seine Kasusrektion den Satz beherrscht, also hier pendebit; die Nominativrektion führt zum Subjekt: uva. Also"P → S".
Das Subjekt seinerseits regiert das Prädikat durch die Numeruskongruenz, dadurch wird das Prädikat in den Singular eingeordnet. In dem Sinne heherrschen sich diese beiden Satzteile gegenseitig, also
"P ↔ S", diese beiden bilden den Satzkern, "die Traube wird hängen".

Die Ablativrektion des Verbs bedeutet hier ein Ortsadverbiale, "an wilden Dornenbüschen"; und uva regiert noch durch Kongruenz ein Adjektiv, "rubens", rötlich.

"An wilden Dornenbüschen wird die rötliche Traube hängen". Seht ihr es auch so?
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Mi 17. Jul 2024, 12:13

Was willst du mit diesem Satz problematisieren?
Er ist doch analytisch banal.
Übung zur Begrifflichkeit/ deskriptiven Terminologie? :?
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon ClaudiaK » Mi 17. Jul 2024, 14:13

incultis sentibus

Sapientius hat geschrieben:Seht ihr es auch so?


Guten Tag Sapientius.
Danke für dieses schöne Beispiel eines versus aureus. Ich sehe ihn in der Tat etwas anders. Es sollte besser heißen "in ... Dornenbüschen".

Die formale Logik liefert hier nur sehr unzureichend Antworten.
1) Der Ablativ antwort zwar allgemein lokal, nicht aber darauf, ob die Trauben an oder in Dornen hängen. Im ersten Fall hätte das Traubenholz die Dornen, im zweiten blitzen die Trauben durch das Gestrüpp anderer Gehölze hindurch. Selbst unkultivierte Traubenreben jedoch haben keine Dornen. Also sind es andere Gehölze. Die Logik der Grammatik alleine ist hier also unzureichend, zum Verständnis des Textes benötigt ein Leser über diese hinaus die Kenntnis der natürlichen Gegebenheiten.

2) Denkt man hier weiter, so kann man auch gar nicht von unkultiviertem Gestrüpp sprechen, sondern muss wieder den Bezug ändern bzw. verschieben: Dornenstrüpp wächst oft in Gegenden, die unkultiviert sind. Der Bezug von incultis ist also weniger sentibus als vielleicht zu denkende regionibus. Es gibt ja kein kultiviertes Gestrüpp sondern nur kultivierte Gegenden, dann aber ohne Gestrüpp. ;-)
Auch in diesem Fall ist der Begriff "regieren" in Bezug auf die Grammatik richtig, inhaltlich aber eher eine Stilfigur, die anderes meint.

Lieber marcus03, jetzt die Problematisierung:
Unkultiviertes Dornengestrüpp kann man es schlechterdings übersetzen. Was wäre besser? :wink:
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Mi 17. Jul 2024, 15:18

ClaudiaK hat geschrieben:nkultiviertes Dornengestrüpp kann man es schlechterdings übersetzen.

Vorschlag: wild wachsendes/wucherndes/von Menschenhand nicht veredeltes/bearbeitetes G.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Tiberis » Mi 17. Jul 2024, 16:47

ClaudiaK hat geschrieben: Der Bezug von incultis ist also weniger sentibus als vielleicht zu denkende regionibus. Es gibt ja kein kultiviertes Gestrüpp sondern nur kultivierte Gegenden, dann aber ohne Gestrüpp.

Ein Bezug auf hier gar nicht erwähnte Gegenden scheint mir nicht sehr plausibel. Vielmehr würde ich einen inhaltlichen Bezug zu uva sehen. Nicht umsonst rahmen incultis und uva den Vers ein.
Es handelt sich hier ja um Wein, der wild wächst im Gegensatz zu "kultiviertem" , in Weingärten gepflanztem Wein. Also: aus/an wildem Dornengestrüpp wird die (ebenso wild wachsende) Traube herabhängen.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Zythophilus » Mi 17. Jul 2024, 17:06

Natürlich wachsen auf Dornsträuchern, egal wie "kultiviert" die auch sind, keine Trauben. Vergil schreibt allerdings kein Biologiebuch. Es ist falsch zu fragen, welche Pflanzen er meint.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon ClaudiaK » Mi 17. Jul 2024, 20:36

Tiberis hat geschrieben:incultis und uva rahmen den Vers ein.


Also läuft es auf eine Enallage hinaus: Ein Adjektiv bezieht sich inhaltlich auf ein anderes Substantiv als es die grammatische Kongruenz vorgibt. Was meint Sapientius zu diesem Umstand? :)
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Tiberis » Do 18. Jul 2024, 00:00

Zythophilus hat geschrieben:Natürlich wachsen auf Dornsträuchern, egal wie "kultiviert" die auch sind, keine Trauben.

uva meis inter frutices iam crescit in hortis
sponte sua , spinis qui minime careant.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon cometes » Do 18. Jul 2024, 01:38

Dass die Trauben nicht dort wachsen, wo der Geist des eisernen Zeitalters sie erwartet, ist ja gerade die Pointe der bukolischen Phantasie der Wiederkehr des goldenen Zeitalters. Ohne Schlangen, giftiges Unkraut, mit veganen Löwen und Honig, der aus Eichen fließt.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Sapientius » Do 18. Jul 2024, 09:44

Was willst du mit diesem Satz problematisieren?


Marce, ich will nichts problematisieren, der Vers problematisiert sich von selbst.

Die Diskussion hat sich, kommt mir vor, im Dornengestrüpp verfangen, holen wir sie raus!

Bestaunen wir die Wortstellung! In Prosa hieße es: "Uvaque rubens sentibus incultis pendebit", die 5 Wörter sind in einer kunstvollen Architektur angeordnet, das Prädikat in der Mitte statt am Ende, und dann zwei ineinander verschachtelte Hyperbata , "incultis - sentibus" und "rubens - uva", vorn die beiden Adjektive, hinten die beiden Substantive; es steht kunstvoll das eine dort, wo das andere stehen sollte, eine ausgewogene Symmetrie.

Ich wollte euch eigentlich eine Stellungnahme zu der Frage entlocken, wie ein Schüler hier von dem vorgefundenen Chaos der unsortierten Wörter zu dem einheitlichen Ganzen einer Aussage finden kann; ich denke, dieses Hilfsmittel mit Kongruenz und Kasusrektion ist hilfreich.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Do 18. Jul 2024, 09:49

Sapientius hat geschrieben:ich denke, dieses Hilfsmittel mit Kongruenz und Kasusrektion ist hilfreich.

Was denn sonst? Man sucht doch immer, was/wer passt zu was/wem.
Das ist doch die Grundüberlegung bei jeder Satzanalyse.
Man knackt den Satz mit einfacher Logik. So kommt schnell Ordnung ins Chaos. :?
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon cometes » Do 18. Jul 2024, 13:40

Dass dem Deutschsprecher die Struktur wie ein Wunderwerk vorkommt, mag ja sein, aber nüchtern betrachtet liegt hier eine simple Form von premodifier-Hyperbaton gedoppelt vor, die antithetische Wirkung ist auch mehr abgeleitet als über starke Gegensatzpaare vermittelt (vgl. groß - klein, Baum - Strauch vs. wild - rot, Dornenstrauch - Traube).
Zuletzt geändert von cometes am Do 18. Jul 2024, 18:53, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Tiberis » Do 18. Jul 2024, 18:04

cometes hat geschrieben:premodifier-Hyberbaton

:roll:
was ein Hyperbaton ist, wissen wir. Aber was ein premodifier-hyperbaton sein soll, wirst du, doctissime cometes, uns sicher noch erklären. Mich erstaunt ja immer wieder, mit was für möglichst unverständlichen Begriffen die Linguisten zu Werke gehen, wenn sie die Sprache sezieren.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Do 18. Jul 2024, 18:43

Pre-modifier are always adverbs - "e.g. extremely, rather, too, very". Post-modifiers are often adverbs, prepositional phrases or certain types of clause. For example, in the adjectival group “very difficult indeed”, “difficult” is an adjective in the head position.


https://en.wikipedia.org/wiki/Grammatical_modifier
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Tiberis » Do 18. Jul 2024, 23:19

marcus03 hat geschrieben:Pre-modifier are always adverbs

:?
Abgesehen davon, dass das schlicht unrichtig ist (Adjektive, Partizipien usw. kommen genauso gut in Frage), sehe ich keine Notwendigkeit, die Terminologie der lateinischen Grammatik mit fragwürdigen englischen Begriffen zu "bereichern". :x
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