Ein Vergilvers

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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Sapientius » Fr 19. Jul 2024, 09:27

Man sucht doch immer, was/wer passt zu was/wem.
Das ist doch die Grundüberlegung bei jeder Satzanalyse.
Man knackt den Satz mit einfacher Logik. So kommt schnell Ordnung ins Chaos.


Du hast schon recht, Marce, aber wir sind noch nicht am Ziel; am Anfang haben wir das 5-Wörter-Chaos, und wenn wir "Ordnung" haben, haben wir ein Dreier-Chaos: "Subjekt, Prädikat, Adverbiale"; wir suchen aber ein Ganzes, eine integrale Einheit. Meine Vorstellung ist: die Einheit besteht in dem vom Prädikat beherrschten Beziehungsgeflecht. Das Prädikat ist also das schlagende Herz des Satzes, oder das "power house".
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Fr 19. Jul 2024, 10:15

Sapientius hat geschrieben:Das Prädikat ist also das schlagende Herz des Satzes, oder das "power house".

Nihil video novi sub sole sententias perspiciendi et explicandi nisi verba alia ad rem iamdudum similiter explicatam describendam.
Interdum mihi res aliter bene iam notas difficilius, partim quam difficillime describere (velle) videris.
De praedicti pondere gravi disputare opus non est.
Problemata esse censere videris, ubi mea sententia sint nulla vel omnium minime dignissima,
de quibus disputetur.
Problema revera maximum esse puto illa tria, quae dixeris, cognoscere.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon cometes » Fr 19. Jul 2024, 14:53

marcus03 hat geschrieben:
Pre-modifier are always adverbs - "e.g. extremely, rather, too, very". Post-modifiers are often adverbs, prepositional phrases or certain types of clause. For example, in the adjectival group “very difficult indeed”, “difficult” is an adjective in the head position.


https://en.wikipedia.org/wiki/Grammatical_modifier



Das Zitat macht keine allgemeine Einschränkung des Begriffs premodifier hinsichtlich der Wortart, sondern entstammt einer Erörterung über englische Adjectival Groups. Nur in diesem Kontext ist es korrekt, der verlinkte Wikipedia-Artikel hingegen gibt die grundlegende, auch für die Diskussion hier relevante Definition: a modifier is an optional element in phrase structure or clause structure which modifies the meaning of another element in the structure. For instance, the adjective "red" acts as a modifier in the noun phrase "red ball". Das Präfix pre- ergänzt dies um eine positionale Angabe, wo sich dieses Element aus Sicht des modifizierten Elements findet.

Beim Versuch der Vorstellung, eine (vom Autor bewusst gewählte) diskontinuierliche Wortstellungsstruktur wie das Hyperbaton sei im Lateinischen so etwas wie ein morphosyntaktisches Puzzlespiel mit formalästhetischem Mehrwert (und das Verständnisziel die "korrekte" Zusammensetzung der verstreuten Elemente), eine andere Sicht entgegenzusetzen und eine Typologie von Hyperbata zu erstellen, hat sich die Differenzierung u.a. nach pre- und postmodifier hyperbata als zweckdienlich erwiesen, um ihre keineswegs beliebigen syntaktischen Regeln und die unterschiedlichen Funktionen, die sie bei der Präsentation von Information erfüllen, besser zu verstehen.


Hyperbaton systematically encodes clearly discernible pragmatic structures in regular patterns across a range of syntactic categories: in addition to the two sentences just cited, Latin allows a red with shirt, of a red the buttons shirt, of a red desirous shirt, Which did he buy shirt?, A far he bought nicer shirt, He bought a red shirt and blue, and so on.

The natural inclination of the English speaker is to put Humpty Dumpty together again by reconstituting a continuous noun phrase (a red shirt, etc.) out of the disiecta membra of hyperbaton. But we shall argue that this inclination should be resisted as another manifestation of the bad old habit of ignoring word order when reading Latin. (A.M. Devine Laurence D. Stephens: Latin Word Order - Structured Meaning and Information)


Was die Syntax angeht, fällt, folgt man Devine & Stephens, das Beispiel aus Vergil unter das erste - simpelste - von vier grundlegenden Mustern: premodifier - verb - modified, hier doppelt zur Anwendung gebracht: incultis[que] (premodifier a) rubens (premodifier b) pendebit (verb) sentibus (modified a) uva (modified b).

Wozu der ganze Zauber, wenn es sich nicht, was wir bei Vergil nicht annehmen wollen, nur um formalrhetorisches Geprunke oder metrische Notlage handelt?

Meines Erachtens nutzt der Dichter den typischen Effekt solcher premodifier-Hyperbata, der den Fokus auf die modifier allein (und nicht wie oft bei anderen Formen auf die Phrase als Ganzes) legt, um die eben nicht über ein typisches Gegensatzpaar (klein - groß) laufende, sondern aus dem Weltwissen über Weinbau fließende antithetische Wirkung zu erzeugen, die er im Kontext einer bukolischen Phantasie vom wiederkehrenden Goldenen Zeitalter benötigt, um sie den anderen erfahrungswidrigen Wundern zuzugesellen (vegane Löwen, Honig aus Bäumen).

Nicht so sehr, dass an Gestrüpp (die Pflanzenart ist, wie Zythophilus, denke ich, zu Recht einwirft, zunächst unerheblich, also vielleicht auch einfach die Wildform der Kulturpflanze) die Traube wächst, ist das Entscheidende, sondern dass sie, obwohl ihr Träger unkultiviert, rubens sein wird (bzw. pendebit).

Wäre der Sinn des Verses nur, dass rote Trauben wachsen, wo man sie niemals erwartete, scheint das alles ziemlich überflüssig. Das auch in diesem Faden anklingende Unbehagen an der Redundanz der in die gewöhnliche Ordnung gebrachten Nominalphrase incultis sentibus (das Gestrüpp ist ja per definitionem unkultiviert), welches manche Kommentatoren durch Emendation lieber beseitigt sehen wollten, wird jedoch durch die diskontinuierliche Wortstellung des Hyperbatons zurückgedrängt, weil sich der Fokus auf die beiden in unmittelbare Nachbarschaft gebrachten premodifier verschiebt, um besagten Gegensatz aufzubauen, nicht das Selbstverständliche zu betonen.

Das Partizipialadjektiv (rotprangend, wie es u.a. im Georges heißt) erscheint mir in dem Licht auch nicht als beliebiges Synonym anderer Farbadjektive, sondern verweist zurück auf die Semantik des Verbs, von dem es abgeleitet ist, das die kraftvolle Röte mit Aufmerksamkeit beanspruchender Signalwirkung ins Zentrum rückt. Bei rubere geht es um auf der Erde vergossenes Blut, gerötete Wangen und Augen oder eben pralle Blüten und Früchte, nicht den Abgleich mit der Farbkarte.

Es ergänzt auch die vom unmittelbar anschließenden Verb aufgerufene Vorstellung des Herabhängens. Diese Traube hängt also rotprangend und schwer herab, erzeugt so ein Bild schlaraffischen Überflusses, für den man nicht schuften muss (nicht von ungefähr wie in der Bibel Dtn 6,3 et al. am Beispiel von Wein und Honig vorgeführt) und nicht das von ein paar kümmerlichen roten Trauben, wie sie ein Gestrüpp ohne Zutun produziert - das scheint mir ein solchen Phantasien vom Goldenen Zeitalter, welches die Verse erträumen, wesentliches Versprechen reicher Ernte.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Sa 20. Jul 2024, 08:11

Beim Versuch der Vorstellung, eine (vom Autor bewusst gewählte) diskontinuierliche Wortstellungsstruktur wie das Hyperbaton sei im Lateinischen so etwas wie ein morphosyntaktisches Puzzlespiel mit formalästhetischem Mehrwert (und das Verständnisziel die "korrekte" Zusammensetzung der verstreuten Elemente), eine andere Sicht entgegenzusetzen und eine Typologie von Hyperbata zu erstellen, hat sich die Differenzierung u.a. nach pre- und postmodifier hyperbata als zweckdienlich erwiesen, um ihre keineswegs beliebigen syntaktischen Regeln und die unterschiedlichen Funktionen, die sie bei der Präsentation von Information erfüllen, besser zu verstehen.

WOW!
Den Satz hätte ich gern auf Latein, besser noch den gesamten Beitrag.
Dagegen wirken Ciceros Perioden wie Sätze aus Kinderbüchern fürs Vorschulalter. :wink:
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Sapientius » Sa 20. Jul 2024, 08:34

Dichtung ist eine Art Wortmusik, schaut hin, das tragende Prädikat pendebit steht in der Mitte, hervorgehoben durch Zäsuren vorher und nachher, und die zugehörigen nominalen Bestandteile stehen symmetrisch überkreuzt dazu.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Sa 20. Jul 2024, 10:09

Die Frage ist: Wieviel davon ist beabsichtigt und wieviel schlicht nur dem metrischen Zwang geschuldet?
Haben sich Vergil, Horaz und Ovid wirklich über jedes Stilmittel Gedanken gemacht?
Oder hatten sie es v.a. im Gefühl als Native-Speaker?
Bei Abertausenden von Versen denkt man sicher nicht über alles und jedes nach, oder?
Es fließt in die Feder wie Melodien dem Komponisten.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon cometes » Sa 20. Jul 2024, 11:41

Sapientius hat geschrieben:Dichtung ist eine Art Wortmusik, schaut hin, das tragende Prädikat pendebit steht in der Mitte, hervorgehoben durch Zäsuren vorher und nachher, und die zugehörigen nominalen Bestandteile stehen symmetrisch überkreuzt dazu.


Bezeichnend, dass sich die Aufforderung an die Augen richtet, nicht an die Ohren. Die Wortstellung dient hier aber, wie dargelegt, nicht der Fokussierung des Prädikats, sie ist auch keine architektonische Leistungsschau (die Beschreibung liest sich wie aus dem Dehio für Grammatiker), sondern soll die für das Bild schlaraffischen Überflusses des verheißenen Goldenen Zeitalters bedeutsamen Elemente zur wesentlichen Mitteilung machen. Dass im Deutschen sich, ohne ungrammatisch zu werden, dies nicht nachbilden lässt, macht den Nachvollzug schwierig und den Versuch, Humpty Dumpty zusammenzuflicken, so attraktiv. Vgl. den Unterschied zwischen


* und an unkultiviertem rotprangend WIRD HÄNGEN Gestrüpp die Traube

Wo ist der für die Verheißung bedeutsame Nachrichtenwert? Dass Trauben HÄNGEN WERDEN? Das tun sie alle, ob wild gewachsen oder mühevoll gehegt und gepflegt.

* und AN UNKULTIVIERTEM ROTPRANGEND wird hängen Gestrüpp die Traube

Das sind doch wunderbare Neuigkeiten, wir müssen also nichts dafür tun und sie werden trotzdem nicht kümmerlich sein, sondern so richtig prall und rot herausleuchten aus dem Grünzeug.

Das bedeutet nun keineswegs, dass das Prädikat gänzlich unwichtig ist, aber seine Position dient nicht dazu, den Fokus auf es selbst zu richten, sondern über die Diskontinuierung der Nominalphrasen (im Einklang mit der typischen Wirkung solcher lateinischer Hyperbata) auf die premodifier und den sich daraus ergebenden attraktiven Gegensatz, der reiche Ernte ohne Schweiß verspricht. Es geht eben nicht nur um Klangschönheit und ästhetisch befriedigende Baugesetze, sondern auch um structured meaning.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Sa 20. Jul 2024, 12:10

cometes hat geschrieben: structured meaning.

Für Mitleser, das den Begriff so nicht kennen:

KI:
Der Begriff "structured meaning" (strukturierte Bedeutung) stammt aus der Semantik und Linguistik. Er bezieht sich auf die Idee, dass die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks nicht nur aus der Summe seiner Teile besteht, sondern auch eine interne Struktur aufweist. Hier sind einige Kernpunkte:

Definition:
"Structured meaning" beschreibt die Auffassung, dass die Bedeutung eines Satzes oder Ausdrucks eine hierarchische Struktur hat, die der syntaktischen Struktur des Ausdrucks entspricht oder mit ihr in Beziehung steht.
Kompositionsprinzip:
Es basiert auf dem Prinzip der Kompositionalität, wonach sich die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks aus den Bedeutungen seiner Teile und der Art ihrer Zusammensetzung ergibt.
Anwendung:
Dieses Konzept wird in verschiedenen Bereichen der Linguistik und Computerlinguistik angewandt, einschließlich der formalen Semantik, der Computerlinguistik und der Künstlichen Intelligenz.
Beispiel:
In dem Satz "Der Hund jagt die Katze" hat jedes Wort eine Bedeutung, aber die Gesamtbedeutung ergibt sich aus der strukturierten Kombination dieser Einzelbedeutungen.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Sa 20. Jul 2024, 15:30

Beim Versuch der Vorstellung, eine (vom Autor bewusst gewählte) diskontinuierliche Wortstellungsstruktur wie das Hyperbaton sei im Lateinischen so etwas wie ein morphosyntaktisches Puzzlespiel mit formalästhetischem Mehrwert (und das Verständnisziel die "korrekte" Zusammensetzung der verstreuten Elemente), eine andere Sicht entgegenzusetzen und eine Typologie von Hyperbata zu erstellen, hat sich die Differenzierung u.a. nach pre- und postmodifier hyperbata als zweckdienlich erwiesen, um ihre keineswegs beliebigen syntaktischen Regeln und die unterschiedlichen Funktionen, die sie bei der Präsentation von Information erfüllen, besser zu verstehen.



KI-ÜS in allgemein verständlicheres Deutsch:

Man hat versucht, eine neue Sichtweise auf eine besondere Art der Wortstellung im Lateinischen zu entwickeln. Diese besondere Wortstellung nennt man Hyperbaton. Bisher dachte man oft, dass ein Hyperbaton nur ein kompliziertes Sprachspiel sei, bei dem der Leser die Wörter richtig zusammensetzen muss, um den Satz zu verstehen.
Um diese alte Vorstellung zu hinterfragen und verschiedene Arten von Hyperbata zu unterscheiden, hat man eine neue Einteilung vorgenommen. Dabei unterscheidet man zum Beispiel zwischen Wörtern, die vor dem Hauptwort stehen, und solchen, die danach stehen.
Diese neue Einteilung hat sich als sehr nützlich erwiesen. Sie hilft uns, zwei Dinge besser zu verstehen:

Die Regeln, nach denen Hyperbata gebildet werden. Diese Regeln sind nämlich gar nicht so willkürlich, wie man früher dachte.
Die verschiedenen Aufgaben, die Hyperbata erfüllen, wenn sie Informationen vermitteln.

Diese neue Betrachtungsweise zeigt uns, dass Hyperbata mehr sind als nur ein stilistisches Mittel. Sie folgen bestimmten Regeln und haben wichtige Funktionen in der lateinischen Sprache.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Sapientius » So 21. Jul 2024, 09:26

Die engl. Linguisten sind Empiristen, sie fragen: "How to do things with words", also die Worte sind nachgeordnet; wir als die letzten Nachfahren der Humanisten sehen es etwas anders.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » So 21. Jul 2024, 13:32

Sapientius hat geschrieben:Die engl. Linguisten sind Empiristen, sie fragen: "How to do things with words",


„Nichts ist im Verstand, das nicht vorher durch die Sinne erfasst worden wäre“.

Auch ein gut vorgetragenes Gedicht ist eine schöne sinnliche Erfahrung.
Hexameter, Distichen, mit Pathos vorgetragen, sind "megageil". :D
.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Tiberis » So 21. Jul 2024, 22:42

cometes hat geschrieben: Die Wortstellung dient hier aber, wie dargelegt, nicht der Fokussierung des Prädikats, sie ist auch keine architektonische Leistungsschau (die Beschreibung liest sich wie aus dem Dehio für Grammatiker), sondern soll die für das Bild schlaraffischen Überflusses des verheißenen Goldenen Zeitalters bedeutsamen Elemente zur wesentlichen Mitteilung machen.


Aha. Und wie verhält es sich mit der Wortstellung dann im nächsten Vers?

et durae quercus sudabunt roscida mella

Wäre dann nicht zu erwarten, dass auch hier die "für das Bild schlaraffischen Überflusses bedeutsamen Elemente" besonders hervorgehoben werden? Dies findet jedoch nicht statt, obwohl Vergil ja auch hätte schreiben können

roscidaque ex dura manabunt ilice mella.

Wie das? War sich Vergil etwa der Bedeutung von "structured meaning" :hairy: nicht bewusst? Hatte er tatsächlich keine Ahnung von der " Diskontinuierung der Nominalphrasen auf die premodifier und den sich daraus ergebenden attraktiven Gegensatz" ??
Ich meine, wir sollten uns vor Überinterpretationen hüten, zumal Dichtung ja nicht mathematischen Gesetzen folgt. Und ich warne davor, an Dichtung quasi mit dem Seziermesser heranzugehen oder sie nach Art der Chemiker gleichsam einer Laboranalyse zu unterziehen. Wenn wir Dichtung interpretieren, sollten wir uns bewusst sein, dass jegliche Interpretation immer eine subjektive ist, vergleichbar einem Klavierstück, welches jeder Pianist naturgemäß anders spielt.
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stringentem ripas et pinguia culta secantem,
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon cometes » Mo 22. Jul 2024, 01:51

Zur Diskussion gestellt wurde eine Überlegung im Rückgriff auf eine an hunderten Beispielen entwickelte Theorie (nachzulesen bei Devine und Stephens und anderen) zur typischen Wirkung dieser Art der Diskontinuierung der Nominalphrase im Kontext des gezeichneten Bildes von *an unkultiviertem rotprangend hängender Gestrüpp Traube, um zu verstehen, warum Vergil tut, was er tut, vorausgesetzt es handelt sich nicht um ein nur auf die Beeinflussung des Rhythmus ohne Rücksicht auf den Sinn abzweckendes sogenanntes Stilmittel. Denn dass es eines ist und die Wortstellung auffällig, steht ja wohl außer Streit.

Behauptet war, dass es diese Fokussierung auf die nebeneinander zu stehen kommenden premodifier erlaubt, den wunderbaren und erwartungswidrigen Gegensatz stark aufzubauen und ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen, der reiche Ernte ohne Mühe im Goldenen Zeitalter verheißt, während sie die weniger überraschenden Aspekte, dass Trauben hängen werden oder rotprangend sein können, und die befremdende Redundanz zurückdrängt, die bei der gewöhnlichen Stellung der Nominalphrase an unkultiviertem Gestrüpp (= fixed Humpty Dumpty) unangenehm auffällt.

Gerade sie wurde am Beginn des Fadens thematisiert und hat auch manche Philologen zur Emendation neigen lassen (e.g. Kraggerud, E. (2016): Vergiliana: Woodman argues for changing the lines […] and partly the wording because […] incultis is redundant with sentibus). Wollen wir also diesen Stimmen folgen und den Text verbessern, oder genügt es vielleicht, besser zu verstehen, warum die Wörter von Vergil eben so gesetzt wurden?

Aus alldem folgt aber nun gewiss nicht, dasselbe Mittel sei vom Dichter gleich im nächsten Vers zwingend einzusetzen, ohne es könne man überhaupt nicht schlaraffischen Überfluss kommunizieren usf., von der Freiheit der Wahl der Mittel durch den Autor ganz zu schweigen. Dass er im Folgevers keine premodifier-Hyperbata gebraucht, beweist also nun oder widerlegt was genau?

Ich sehe in ihm nebenbei keine vergleichbaren Probleme, weder sind die Nominalphrasen annähernd redundant, noch steht dem überraschenden Bild, dass Bäume Honig geben etwas vergleichsweise Banales im Wege, der Überfluss ist in der Verbsemantik präsent, sie schwitzen ihn regelrecht aus. Hängen besitzt dergleichen Bedeutungsaspekt nicht.

Der variable Einsatz von Wortstellungsmustern nach bestimmten Regeln zur Strukturierung von Bedeutung, der Hervorhebung von Informationen usf. ist grundsätzlich kein Dichtern, Denkern, Juristen oder sonstigen Spezialisten vorbehaltener stilistischer Luxus, sondern ein essentielles Element der Sprachbeherrschung für jeden kompetenten Sprecher auch im Alltag, er setzt also weder in der Anwendung noch im Verständnis die Kenntnis irgendeiner speziellen Theorie (und ihrer Terminologie) voraus. Aber natürlich macht nicht jedermann in gleichem Ausmaß und in so raffinierter Weise davon Gebrauch wie mancher Dichter.

Dass der über solche Theorie laufende Nachvollzug an einem schon ausführlich problematisierten Vers einer der berühmtesten und entsprechend oft "sezierten" Dichtungen der Antike dieser gefährlich werden könnte, ist wohl kaum zu erwarten.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Sapientius » Mo 22. Jul 2024, 08:38

... zur typischen Wirkung dieser Art der Diskontinuierung der Nominalphrase ...


Hallo cometes, ich denke, das Hyperbaton trennt nicht nur Zusammengehöriges, sondern bindet zugleich; "qua de causa" reißt nicht auseinander, sondern bindet das Einzelne zur kompakten Einheit, bildet einen Block, schafft eine höhere Einheit ("tenerorum lusor amorum"; 2 - 1 - 3: da ist nicht etwas umgestellt, sondern zusammengefasst).

Auf die Gefahr hin, "reduntant" zu werden, möchte ich noch sagen: "Incultis-" am Versanfang ist ein der Kongruenz unterworfenes unvollständiges Element, das nach dem regierenden Substantiv verlangt; ebenso das folgende "rubens"; dadurch wird eine Spannung aufgebaut, die am Versende gelöst wird. Man kann darin eine Satzdynamik sehen.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Mo 22. Jul 2024, 15:20

Ich frage mich, ob hier eher Eisegese statt Exegese betrieben wird.
Ob Vergil das wirklich alles so bewusst intendiert hat? :?
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