Ein Vergilvers

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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Tiberis » Mo 22. Jul 2024, 21:32

cometes hat geschrieben: (1) Dass er im Folgevers keine premodifier-Hyperbata gebraucht, beweist also nun oder widerlegt was genau?

(2)Ich sehe in ihm nebenbei keine vergleichbaren Probleme, weder sind die Nominalphrasen annähernd redundant, noch steht dem überraschenden Bild, dass Bäume Honig geben etwas vergleichsweise Banales im Wege, der Überfluss ist in der Verbsemantik präsent, sie schwitzen ihn regelrecht aus. Hängen besitzt dergleichen Bedeutungsaspekt nicht.


ad (1) : Es beweist schlichtweg, dass diese sogenannten premodifier- hyperbata nicht erforderlich sind, um
" die für das Bild schlaraffischen Überflusses des verheißenen Goldenen Zeitalters bedeutsamen Elemente zur wesentlichen Mitteilung (zu) machen". Das heißt wiederum, dass man der Wortstellung, die sich nicht zuletzt auch durch metrische Erfordernisse ergibt, nicht eine zu große Bedeutung beimessen sollte.

ad (2) :
incultisque rubens pendebit sentibus uva
et durae quercus sudabunt roscida mella.

Von wegen "banal" : Wenn die Wortverbindung incultis sentibus "banal" ist, dann ist durae quercus sicher nicht weniger banal, oder gibt es Eichen, die nicht hart sind?
Fakt ist jedenfalls, dass alle Wörter des ersten Verses auch im zweiten ihre Entsprechung haben. Ob man das jetzt als redundant sieht oder nicht, sei dahingestellt. Auch die Aussage, der Überfluss sei "in der Verbsemantik präsent", halte ich für eine eher fragwürdige Überinterpretation, die sich mir nicht erschließt. Honig, der aus den Eichen "fließt", wird von diesen naturgemäß "ausgeschwitzt", genauso wie Harz aus Föhren. Wie sonst sollte man den Vorgang bezeichnen?
Man mag es vielleicht anders sehen, aber ich halte beide Verse für durchaus vergleichbar.

Im übrigen halte ich es für unangebracht, Forumsbeiträge (!) in einer Diktion abzufassen, deren Aussage sich selbst studierten Philologen mitunter erst nach dreimaligem Durchlesen erschließt. Wer tatsächlich etwas mitzuteilen hat, wird immer auch in der Lage sein, sich klar und schlicht auszudrücken und Formulierungen meiden, die den Verdacht intellektueller Selbstgefälligkeit aufkommen lassen könnten. Bei der Wahl des genus dicendi sollte man bekanntlich die Adressaten berücksichtigen, und die sind hier sicher nicht die Leser eines linguistischen Fachjournals.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Sapientius » Di 23. Jul 2024, 09:04

Ich frage mich, ob hier eher Eisegese statt Exegese betrieben wird.


Marce, mach dir nichts vor, wir können den römischen Dichter nur zu Gehör bringen, indem wir ihm unsere Stimme leihen. Eis- und Exegese müssen ineinandergreifen, das ist das Problem der Hermeneutik, darüber gibt es viel Kopfzerbrechen.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Di 23. Jul 2024, 09:26

Der Anspruch der Philologie sei, den Autor besser zu verstehen, als er sich selber verstanden habe, sagte mir mal ein Professor.
Der Satz stammt von Hans Georg Gadamer stammen (Wahrheit und Methode).

vgl:
https://bollnow-gesellschaft.de/getmedi ... 0-orig.pdf

Sapientius hat geschrieben:wir können den römischen Dichter nur zu Gehör bringen

Auch wörtlich genommene/akustisch kann das sehr schön sein.
Wie ich schon öfter sagte: Hexameter und Distichen klingen "geil", wenn richtig vorgelesen. :D
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Zythophilus » Di 23. Jul 2024, 19:12

Auctor quae uoluit, melius nos nouimus ipso,
nec tamen haec nobis scribere uerba licet.

War der Ausspruch des Professors als Scherz gemeint oder lag ihm die Erkenntnis zu Grunde, dass Autoren eben ihre Werke normalerweise nicht erklären?
Vor allem bei entlegeneren Werken brauchen wir eine Erklärung, damit der Autor außerhalb seiner Zeitumstände verstanden wird. Heutzutage würde sich ein Vergil nicht mehr verstehen.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Mi 24. Jul 2024, 11:02

Zythophilus hat geschrieben:War der Ausspruch des Professors als Scherz gemeint oder lag ihm die Erkenntnis zu Grunde, dass Autoren eben ihre Werke normalerweise nicht erklären?

Es war wohl cum grano salis gesagt, meint aber, dass in der Philologie alles versucht wird den Autor
umfassend aus seiner Zeit heraus zu verstehen und für die heutigen Leser verstehbar zu machen.

Man denke an die Bibel, das angeblich am intensivsten untersuchte Buch der Welt.
Es gibt keinen Plato-Lehrstuhl, aber zuhauf Lehrstühle für das AT und NT.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Sapientius » Mi 24. Jul 2024, 14:49

Wenn man einen Text publiziert, dann wird das Innere zum Äußeren, das Eigene zum Fremden.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Mi 24. Jul 2024, 15:16

Sapientius hat geschrieben:dann wird das Innere zum Äußeren, das Eigene zum Fremden.

Wie soll ich das verstehen? Vorsicht: Leerformelgefahr! ;-)
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon cometes » Fr 26. Jul 2024, 13:08

Es beweist schlichtweg, dass diese sogenannten premodifier- hyperbata nicht erforderlich sind, um "die für das Bild schlaraffischen Überflusses des verheißenen Goldenen Zeitalters bedeutsamen Elemente zur wesentlichen Mitteilung (zu) machen"


Dass das premodifier-Hyperbaton zwingend erforderlich wäre für Bilder schlaraffischer Überfülle, reicher Ernte ohne Mühe usw., wie sie ganz typisch sind für Schilderungen Goldener Zeitalter und von denen die Ekloge voll ist, wurde nie behauptet.

Besagtes Wortstellungsmuster ist nun einmal im diskutierten goldenen Vers (ein Begriff der Neuzeit, offenbar kein explizites antikes Stilideal, die Frequenz bei Vergil liegt unter 1 Prozent für Adjektive als premodifier) anzutreffen, und kann hinsichtlich der Bedeutungsstrukturierung und Fokussierungseffekte analysiert werden, die sich auch, darauf beruht die ins Spiel gebrachte Theorie ja, an hunderten anderen Beispielen antiker Literatur beobachten lassen.

Das erfolgt natürlich im jeweiligen Kontext und kann überzeugen oder nicht, aber a priori anzunehmen, dies sei immer nur metrischen Zwängen geschuldet oder ein sonstiges rhythmisches oder gar sich in der symmetrischen Gliederung vorwiegend an das Auge wendende Ornament und habe nie etwas mit der Steuerung der angebotenen Information zu tun, ist angesichts dieses Befunds wenig glaubhaft. Warum sollte die Dichtung ein so essentielles Prinzip grundsätzlich entbehren oder vorsätzlich ignorieren?

Der Schluss, es müsse dann ja auch unter sogenannten vergleichbaren Bedingungen (auf die komme ich unten zurück) und daher im Folgevers zum Einsatz kommen, und wenn nicht, sei dies ein Beweis, dass es auch im ersten Fall nicht leiste, was behauptet wurde, ist zirkulär und von fragwürdigen Voraussetzungen geprägt.

Es wäre auch umgekehrt, fänden wir zweimal dieselbe Wortstellung hintereinander, kein zusätzlicher Beweis für die Annahme, schließlich gibt es eine Vielzahl von in den Aussageabsichten liegenden Motiven und stilistischen Abwägungen, alternative Mittel, nicht zuletzt die Freiheit der Unterlassung als mögliche Gründe zu berücksichtigen.

Derlei sprachliche Gestaltung unterliegt prinzipiell keinen quasi naturgesetzlichen Zwängen, die so eine "Beweisführung" tragen könnten, kein Sujet diktiert auf dieser Ebene irgendwelche unabänderlichen Gesetze der Bedeutungstrukturierung. Die vorgeschlagene Deutung der Redundanzabschwächung durch Diskontinuierung der Nominalphrase bzw. Stärkung der antithetischen Wirkung durch die fokussierende Zusammenziehung der premodifier sind Optionen unter anderen.

Man kann nur im Nachvollzug zu verstehen versuchen, wie die Entscheidungen des Dichters motiviert sein könnten, sie dort einzusetzen, wo man sie findet, und es anderswo zu lassen.

Dass ich mit dem vorgetragenen Verständnis nicht alleine dastehe, was die zentrale Bedeutung des Kontrastes zwischen incultis und rubens für den Vers anlangt, zeigt z.B. ein Blick in Andrea Cucchiarelli: A Commentary on Virgil's Eclogue (Oxford University Press, 2023, S.224):


Note that this is something of a ' minor ' miracle since V. does not explicity say that brambles produces grapes. Rather, the source of wonder is the fact that ripe (rubens), beautiful grapes appear in the midst of wild brambles witch contradicts the basic principles of viticulture (taught by V. himself in G. 2.410-1: bis vitibus ingruit umbra, bis segetem densis obducunt sentibus herbae, [durus uterue labor] cf. also G. 2.415: inculti … exercet cura salicti).


***

Von wegen "banal" : Wenn die Wortverbindung incultis sentibus "banal" ist, dann ist durae quercus sicher nicht weniger banal, oder gibt es Eichen, die nicht hart sind?


Ich kann hier keine ähnlich provozierende Redundanz erkennen, im Folgevers wird meines Erachtens nämlich keineswegs ebenso unmotiviert wie allgemein über die Härte von quercus im Unterschied zu beliebigen anderen Objekten der Welt, Federn oder Brotteig z.B., gesprochen. Das wäre in der Tat merkwürdig.

Stattdessen bezieht er sich in meinen Augen auf eine spezielle Art, um an eine alte dichterische Tradition anzuknüpfen, die bis zu Hesiod zurückreicht, der in Erga 232f. dieses später mehrfach aufgegriffene Bild von honigspendenden Eichen geprägt hat: The earth bears them victual in plenty, and on the mountains the oak bears acorns upon the top and bees in the midst. "The oak as a ' host ' of honey symbolizes prosperity and abundance for virtuous humans since Hesiod" resümiert Cucchiarelli am angegebenen Ort.


Die komplizierte Entwicklung dieser Vorstellung in der antiken Dichtung über Theokrit zu Horaz, Vergil, Ovid usw., aus der schließlich die in den Stämmen wohnenden Bienen verschwinden, sodass die Bäume selbst zu mehr oder minder magischen Lieferanten des begehrten süßen Goldes werden, im Detail nachzuzeichnen, führte zu weit.

Es sind aber nicht irgendwelche Eichen, die dieses Bild aufrufen, den Baum, den Hesiod auf dem Berg lokalisiert und als δρῦς bezeichnet, nennen seine Nachfolger bei verschiedenen Namen, wobei man dabei weder neuzeitliche taxonomische Präzision noch Einheitlichkeit über Jahrhunderte hinweg erwarten darf. Über das Bezeichnungsgewirr bei Eichen schreibt Plinius maior beim Versuch, eine Systematik zu entwickeln, etwas später nämlich: genera distinguere non datur nominibus, quae sunt alia alibi, […] distingu<e>mus ergo proprietate naturaque […].

Horaz und Ovid assoziieren bei Hesiods δρῦς nicht quercus, sondern ilex (mella cava manant ex ilice, flavaque de viridi stillabant illice mella), ilex aber ist, wie der lexikalische Befund beim Blick ins Wörterbuch zeigt, oft die deutsche Steineiche, deren namengebendes Kennzeichen eben das steinharte Holz ist, während quercus offenbar zwischen einer Art Gattungsbegriff und der Sommereiche oszilliert, ilex wiederum bisweilen austauschbar scheint mit quercus: neben quercus, Enn. ann. 188. Hor. carm. 3, 23, 10 u. ep. 1, 16, 9.

Die duritia der ilex streicht auch Plinius maior hervor (Nat.16.229.) Steineichen wachsen langsam, stehen auch in Höhenlagen, erreichen beträchtliche Lebensdauer (bis 500 Jahre), ihre Blätter sind stachelig, abweisend, der Wuchs wird im Alter knorrig - all das passt doch zur erweiterten Semantik von durus, das aber auch dem klassischen Topos von Kraft und Ausdauer der Eiche im Allgemeinen zuträgt. Ich nehme auch nicht an, dass Vergil, der zwei Drittel seines Werkes pascua und rura gewidmet hat, solche Details und ihre Stimmigkeit schnuppe waren.

Kurzum: diese Vagheit der Eigennamen macht, will man sich mit den Vorbildern kurzschließen, Zusatzinformationen zu natura et proprietas erforderlich, um zu präzisieren, wovon genau die Rede ist.

Cucchiarelli sieht in dem Adjektiv außerdem eine Abhebungsmöglichkeit des Honigs gegen das „symbolic austere food of primeval ages, i.e. acorns“, den harten Eicheln der Steineiche also, die auch schon bei Hesiod als zweite, herbe Gabe genannt werden, steht der lieblich süße Honig gegenüber. Damit nicht genug - zeitgenössischer Philologeneifer hat ihm weitere Aspekte aufgebürdet, sexuelle Konnotationen etwa.

Was immer man von letzteren Hochflügen halten mag, all das spricht dafür, dass der Leser sich nicht angesichts des Offensichtlichen (Eichen sind also harte Dinge. Thanks, Captain Obvious) irritiert abwenden soll, sondern der Vertiefung des Verständnisses zu.

Manches davon erscheint als Klischee spätestens nach zweitausend Jahren in den Mägen poetischer Wiederkäuer, aber unmotiviert an einen Pleonasmus grenzend ist es auch in der gewöhnlichen Wortstellung der Nominalphrase in meinen Augen nicht.

Der Fall der Philologen bis zur Emendation treibenden Paarung von incultis sentibus hingegen (ein ähnliches Unbehagen an durae quercus habe ich in der Literatur nirgends entdecken können), das weder erkennbar an eine solche ehrwürdige Tradition anschließt noch über das Adjektiv eine bestimmte Art spezifizieren will, als ginge es paradoxerweise um kultiviertes vs. unkultiviertes Gestrüpp, ist definitiv anders gelagert. Warum sollte im Folgevers also wie davor die Nominalphrase in derselben Weise unterbrochen werden und zusätzlich kontrastiv auf den premodifier fokussiert werden?


***


Auch die Aussage, der Überfluss sei "in der Verbsemantik präsent", halte ich für eine eher fragwürdige Überinterpretation, die sich mir nicht erschließt. Honig, der aus den Eichen "fließt", wird von diesen naturgemäß "ausgeschwitzt", genauso wie Harz aus Föhren. Wie sonst sollte man den Vorgang bezeichnen?


Natürlich gibt es neutralere, nicht so bildhafte Möglichkeiten, das auszudrücken: ipsae mella dabant quercus (Tibull). Honig geben sie also z.B., da stellt sich bei mir wenigstens keine unmittelbare Vorstellung aus Poren quellenden Honigseims ein.

Unter den im Georges aufgeführten Übersetzungsmöglichkeiten für sudare hingegen finden wir hervorschwitzen, herausschwitzen, von etwas triefen usf.

Das Verb wird u.a. genutzt, um Szenen zu zeichnen, in denen nicht bloß sanft transpiriert wird, sondern Blut, Schweiß, aber auch duftender Balsam strömen: Dardanium totiens sudarit sanguine litus? (Vergil)

Man sollte außerdem die Intensivierung durch das Abundanzmilieu des übrigen Textes nicht unterschätzen: vor Milch strotzende Euter, satte Kornfelder, Blumenteppiche, Schafe in allen Farben der Saison - omnis feret omnia tellus. Da soll gerade der Honig schwach tröpfeln?
Zuletzt geändert von cometes am Fr 26. Jul 2024, 19:13, insgesamt 4-mal geändert.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon cometes » Fr 26. Jul 2024, 13:27

... ich denke, das Hyperbaton trennt nicht nur Zusammengehöriges, sondern bindet zugleich; "qua de causa" reißt nicht auseinander, sondern bindet das Einzelne zur kompakten Einheit, bildet einen Block, schafft eine höhere Einheit ("tenerorum lusor amorum"; 2 - 1 - 3: da ist nicht etwas umgestellt, sondern zusammengefasst).



qua de causa ist ähnlich wie qua de re ein formelhaft gebrauchtes Wortstellungsmuster (für erstere Abfolge finden sich über 100 Beispiele in PHI Latin Texts, nur zwei für die gemessen an der sonstigen Erwartung an Präpositionalphrasen normale de qua causa - vgl. auch im Deutschen eine ähnliche Bildung wie dar-über).

Welche Effekte hier die Extraktion des Relativpronomens noch hinsichtlich der Bedeutungsstrukturierung, Fokussierung usf. bietet, ist also mehr als fraglich. Mag sein, dass du diese Formelhaftigkeit in ihrer Kompaktheit als „höhere“ Einheit an der Grenze zur Zusammenrückung (vgl. Schreibungen wie quare) wahrnimmst.

Ovids manipulative Selbstauskunft an die Nachwelt aus dem Exil nutzt m.E. gerade den besagten fokussteuernden Diskontinuitätseffekt kontrastiv, wobei nur der premodifier des Genetivattributs vorgezogen, dieses selbst aber vom zugehörigen Nomen, das es in die Mitte nimmt, nicht getrennt wird.

Darüber, weshalb Ovid tener als Schlüsselbegriff wählt, um sich in eine bestimmte Tradition von Liebeselegikern einzuschreiben und wogegen es sich abgrenzt (durus, gravis, grandis tauchen u.a. in der Literatur als Kandidaten auf), wie es mit der Charakterisierung als lusor, dem es unmittelbar vorantritt, zusammenspielt, ist viel geschrieben worden - die Positionierung kommt also wohl in meinem Verständnis nicht von ungefähr. Interpretation, Variation und Nachahmung späterer Epochen dieses poetologischen "Selfies" geben vielleicht zusätzlich auf andere Weise den Eindruck von besonderer Gewichtigkeit.


Auf die Gefahr hin, "reduntant" zu werden, möchte ich noch sagen: "Incultis-" am Versanfang ist ein der Kongruenz unterworfenes unvollständiges Element, das nach dem regierenden Substantiv verlangt; ebenso das folgende "rubens"; dadurch wird eine Spannung aufgebaut, die am Versende gelöst wird. Man kann darin eine Satzdynamik sehen.


Ich habe nirgendwo die Ansicht vertreten, dass Diskontinuierung, welcher Ausdruck das Verhältnis zu anderen Wortstellungsmustern derselben Elemente beschreibt, prinzipiell bedeuten würde, dass die anderen Elemente einer Phrase beispielsweise dadurch gänzlich unwichtig würden, selbstverständlich verlangen die Adjektive auch im Beispiel nach einer morphosyntaktisch passenden Ergänzung, aus der der Sinn des Gesagten, das Bild als Ganzes sich ergibt.

Das ist gewiss ein dynamisches Geschehen, wie der Sinn von etwas Gesagtem integrativ entsteht aus den Elementen der Mitteilung, keine triviale Sache. Es ging lediglich darum, die besagten strukturierenden Effekte innerhalb dieses Prozesses in den Blick zu nehmen, ich sehe in diesem Punkt also keinen echten Widerspruch .
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Zythophilus » Fr 26. Jul 2024, 21:44

Bei einer Wortfolge wie qua de causa von einem Hyperbaton zu sprechen, halte ich für übertrieben. Bloß ein Wort steht zwischen den zusammengehörigen Wörtern, außerdem ist diese Wortstellung, bei der die Präp. zwischen Adjektiv oder Pronomen und Substantiv steht, eher der Regelfall. Dazu kommt, dass die meisten Hyperbata in einem Text aus daktylischen Versen nicht der Intention des Dichters, die Stilmittel zu verwenden, entspringen, sondern dem Versmaß geschuldet sind. Wenn man einen Hexameter zusammensetzen will, bemerkt man rasch, dass die Hyperbata sich von selbst ergeben.
Ein Hyperbaton trennt natürlich Zusammengehörendes, baut aber so eine gewisse Spannung auf, weil der Leser bzw. Zuhörer ja erwarten kann, dass noch etwas Wichtiges kommen wird, speziell wenn er vorläufig nur das Adjektiv oder Pronomen liest, sodass der Sinn der Stelle stark vom zu erwartenden Substantiv abhängt. Im konkreten Fall sind die Adjektive incultus und rubens für das Verständnis des Texts nicht nötig und haben eher ergänzenden Charakter. incultus betont den paradiesischen Zustand der Natur, in dem mühevolle Landwirtschaft nicht mehr nötig ist, und die Traube ist eben rot.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon cometes » Fr 26. Jul 2024, 23:23

außerdem ist diese Wortstellung, bei der die Präp. zwischen Adjektiv oder Pronomen und Substantiv steht, eher der Regelfall


Eher bietet ja Spielraum. Nehmen wir einmal praeter, wie viele Beispiele kannst du aus Prosa oder Dichtung anführen, wo das zutrifft, und wie viele, wo nicht?
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon marcus03 » Sa 27. Jul 2024, 06:03

Zythophilus hat geschrieben:Bei einer Wortfolge wie qua de causa von einem Hyperbaton zu sprechen, halte ich für übertrieben.

Meine KI nennt es Hypallage wie MEDIAS IN RES auch und erklärt:
Hyperbaton:
Definition: Ungewöhnliche oder veränderte Wortstellung im Satz
Umfang: Betrifft die gesamte Satzstruktur
Effekt: Verändert den Rhythmus und die Betonung im Satz
Beispiel: "Ihm ward, spät zwar, doch umso herzlicher, applaudiert"

Hypallage:

Definition: Verschiebung eines Attributs auf ein logisch nicht zugehöriges Wort
Umfang: Betrifft spezifisch die Zuordnung von Attributen
Effekt: Erzeugt ungewöhnliche semantische Verbindungen
Beispiel: "bleiches Entsetzen" (statt "Entsetzen, das bleich macht")

Hauptunterschiede:

Hyperbaton ist breiter angelegt und betrifft die Wortstellung im ganzen Satz.
Hypallage ist spezifischer und bezieht sich auf die ungewöhnliche Zuordnung von Attributen.
Hyperbaton beeinflusst primär die Syntax, Hypallage die Semantik.

Ein Hyperbaton kann eine Hypallage enthalten, aber nicht jedes Hyperbaton ist eine Hypallage. Die Hypallage ist eher eine spezielle Form der Attributzuordnung, während das Hyperbaton eine allgemeinere Umstellung der Wortfolge darstellt.

PS:
Zu meiner Schulzeit lief es noch unter Hyperbaton, wohl weil man es mit der Differenzierung nicht übertreiben wollte.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Zythophilus » Sa 27. Jul 2024, 07:26

Wenn wir eine sehr bekannte Stelle wie die ersten Verse der Metamorphosen (Met. I 1-9) betrachten, stellen wir fest, dass da nur ein einziges Adjektiv direkt vor oder hinter dem zugehörigen Substantiv steht, nämlich pondus iners (v. 8). Wenn ich erwähne, dass die Hyperbata oft aus rein praktischen Gründen in daktylischen Versen entstehen, beziehe ich mich logischerweise auf die Dichtung; dass es sich in der Prosa anders verhält, muss ich da wohl nicht eigens dazusagen.
Was das Wort praeter damit zu tun hat, weiß ich nicht.
Hypallage bezeichnet etwas anderes, denn das Adjektiv ist ja normalerweise mit dem inhaltlich zusammengehörenden Substantiv übereingestimmt. Bei qua de causa ist die Übereinstimmung doch trotz der (geringen räumlichen) Trennung klar.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon cometes » Sa 27. Jul 2024, 13:49

Ich nahm an, dass du in der zitierten Aussage eine generalisierte Behauptung über die zu erwartende Wortstellung für Adjektive vor diese regierenden Präpositionen aufstellst, also z.B. auch für praeter (Prognose: 0).

Eine brandneue Analyse von propositional phrase hyperbata in Cicero (https://www.degruyter.com/document/doi/ ... ml?lang=de) kommt u.a zu folgendem Ergebnis:

As the figures given later in this article show, in the corpus of 155,000 words which formed the basis of this study (see next n.), fewer than 8% of the propositional phrases exhibited hyperbaton. Rates may of course be higher in other authors, genres, periods, and in verse texts, but it should be clear that hyperbaton is not consistent enough to form a rule.


Es gibt laut Vendel bei Cicero nur wenige dominierende (gemessen an dieser generellen Erwartung) diskontinuierliche Stellungsmuster, die an bestimmte Worttypen gebunden sind, z.B. negative universal modifier (nullus, non ullus, nemo).

Den Begriff des Hyperbatons ohne Analyse der syntaktisch-semantischen Verhältnisse sowie der Wortarten der beteiligten Elemente im Abgleich mit den in verschiedenen Textgattungen der überlieferten lateinischen Literatur typischerweise auftretenden Wortstellungsmustern schematisch an ein quantitatives Minimum diskontinuierender Elemente zu knüpfen, bringt in meinen Augen keinen Erkenntiswert (anders die Unterscheidung zwischen short und long range hyperbata).

Aus dem Beginn der Metamorphosen hätte ich mich auf das komplexe unus erat toto naturae vultus in orbe gestürzt, geht es um die diskutierten Fragen, wofür oder wogegen pondus iners nun als Beweismittel gelten soll, verstehe ich nicht.

Um von meiner Seite mit der ursprünglichen Debatte über den goldenen Vers aus der vierten Ekloge abzuschließen: ich sehe the source of wonder wie Cucchiarelli nach wie vor in der fokussierenden Kontrastierung der in Stellung gebrachten Adjektiva, die nicht einfach vernachlässigbare Zusatzinformation als erstes servieren, um dann als große Überraschung im Gestrüpp wachsende Trauben als schlaraffische Verheißung des Goldenen Zeitalters zu präsentieren, die, wer es unbedingt wissen will, auch noch rubens sind, wobei ich rot aus genannten Gründen für keine optimale Übersetzung des Partizipialadjektivs halte.
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Re: Ein Vergilvers

Beitragvon Zythophilus » Sa 27. Jul 2024, 14:17

Die Wendung pondus iners zeigt, dass es gelegentlich auch ohne Hyperbaton geht, während die anderen Verbindungen von Adjektiv und Substantiv in diesen zufällig gewählten Versen eben eines - manchmal auch nur mit einem Wort dazwischen - aufweisen.
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