marcus03 hat geschrieben:Das Beste mMn ist immer noch, sich viele Texte anzuhören wie eine CD.
Mag ja sein, aber leider existiert keine CD, auf der antike Rezitatoren zu hören sind. In Ermangelung solcher authentischer Tondokumente bleiben naturgemäß alle unsere Versuche, antike Verse originalgetreu zu rezitieren, letztlich fragwürdig. Und so wird in der Iktus-frage aufgrund diverser indizien in die eine oder andere Richtung argumentiert, wobei die Iktusleugner derzeit in der Mehrheit zu sein scheinen
, ohne jedoch schlüssige Beweise für ihre Hypothese vorlegen zu können.
Ein beliebtes "Argument" dieser Iktusleugner ist nun, dass es nirgends vorkomme, dass Wörter in der Dichtung anders betont werden als in der Prosa. Für die gängigsten europäischen Sprachen mag das zutreffen, aber schon im Ungarischen, in dem die Quantitäten ebenso eine Rolle spielen wie im Lateinischen, ist die Wortbetonung in Liedern nicht selten anders als in der "normalen" Sprache. Im Lateinischen (und Griechischen) kommt noch hinzu, dass - im Gegensatz etwa zum Deutschen - der Wortakzent selbst variabel ist, vgl. dt. die Àrbeit - die Àrbeiten; ich árbeite - ich àrbeitete , hingegen lat. lábor - labóres; labóro - laborábam. Auch angehängtes -que verschiebt den Wortakzent, jedenfalls immer dort, wo sich Positionslänge einstellt: vírum - virúmque usw. Es wäre also einigermaßen befremdlich, wollte man in einem iambischen Senar,z.B.
'O qui tuarum, corve, pinnarum est nitor!im letzten Metrum statt der letzten die erste Silbe betonen (nítor), was dem Versrhythmus völlig zuwiderliefe und eher an einen Hinkjambus denken ließe als an einen jamb.Senar.
Sehen wir uns eine Horazode an, beispielsweise c.4,1:
Intermissa, Venus, diurursus bella moves? Parce precor, precor.
Non sum qualis eram bonae
sub regno Cinarae. Desine, dulcium
mater saeva Cupidinum, 5
circa lustra decem flectere mollibus
iam durum imperiis: abi,
quo blandae iuvenum te revocant preces.
Tempestiuius in domum
Pauli purpureis ales oloribus 10
comissabere Maximi,
si torrere iecur quaeris idoneum;Jene Stellen, in denen Wortakzent und Versiktus zusammenfallen und deren Rhythmus somit eindeutig ist, habe ich farblich gekennzeichnet (blau= Glykoneus, rot = Asklepiadeus minor). Man kann davon ausgehen, dass dieser Rhythmus auch in den restlichen Versen existiert. Dieser Rhythmus wäre jedoch völlig zerstört, würde man z.B. in v.2 folgendermaßen betonen: parce précor, précor
Natürlich wäre es ebenso verkehrt, den Wortakzent völlig auszublenden. Die Kunst des richtigen Rezitierens besteht ja darin, Wortakzent, Quantitäten und Versrhythmus gleichermaßen zu Gehör zu bringen. Man wird also beispielsweise v.8 folgendermaßen lesen:
quó blàndáe iùvenúm té rèvocánt prècésquid obstat?