Im Zuge der #MeeToo-Debatte kommt Katharina Wesselmann, Professorin für Didaktik der Alten Sprachen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in dem Artikel „Metamorphosen der sexuellen Gewalt“ (Zeit online, 10.09.2019) u.a. zu folgender Frage:
„Die deutschsprachige Altphilologen-Community hat auf #MeeToo bisher nicht reagiert […]; die Gewalt in den Text wir schlicht ignoriert. Werden dennoch unbequeme Fragen gestellt, lautet die Standardantwort, die Welt der griechisch-römischen Antike sei eben leider nicht ganz so wunderbar wie die unsrige gewesen. […] Aber wenn die Welt der antiken Texte so fremd ist, wenn sie rein gar nichts mit unserer Gegenwart zu tun hat – wieso sollen dann Jugendliche antike Texte überhaupt lesen?“
Erläutern sie ausgehend – von dem obigen Zitat -, inwieweit die Behandlung politisch inkorrekter Inhalte im lateinischen Lektüreunterricht einerseits Gefahren bergen, andererseits aber auch gerechtfertigt werden kann! Konkretisieren Sie Ihre Ausführungen anhand geeigneter Beispiele aus dem derzeit gültigen Lehrplan für Latein.
Meine Überlegungen:
Ich habe damals den Artikel gelesen und meine, dass selbst die Professorin keinen Standpunkt dazu hatte, wie man die Texte lesen könnte. Und seit meiner Lektüre von Hygin und dem dabei gefühlt am häufigsten gelesenen Wortes comprimere, frage ich mich das auch: Wie kann man die Texte lesen?
Für eine Annäherung wage ich zuerst einen Blick in meine eigene weibliche Befindlichkeit. Ich mag die Texte von Ovid und sie stoßen mir auch gar nicht metoo-mäßig sauer auf. Woran liegt das? Evidenzbasiert und per Umfrage unter den Frauen empirisch belegt gehört ein gewalttätiger Übergriff durch einen attraktiven fremden Mann bei Frauen wohl ins Standardrepertoir erotischer Fantasien. Es ist ein Kompliment an ihre überwältigende Schönheit. Apoll als Gott wäre ja durchaus so ein attraktives Wesen.
Der Knackpunkt: Es handelt sich um eine Fantasie (Ich verweise mal auf die große Leserinnenschar von Fifty shades of Grey) und nicht um eine Aufforderung zu einer Umsetzung im echten Leben. Kein Mann ist so überwältigend attraktiv, schön oder reich wie Apoll oder George Clooney. Ein normaler Mann muss sich den Beziehungsmarkt begeben und wird durch Frauen, die wiederum ihrerseits einen Marktwert haben, bewusst oder unbewusst, geprüft und handelt Langfristigkeit aus und muss meist heutzutage immer mal nachverhandeln. Soviel zu Realität einerseits und Fantasie/Mythos/Fiktion/Genuss andererseits.
Der zweite Punkt betrifft die strukturelle Gewalt gegen Frauen. Das hat weder was mit Misogynie in der Antike noch heute zu tun. Es gab Matronen, die waren hoch geschätzt und Frauen, an denes sich nicht vergriffen werden durfte. Mögen sie Idealprojektion gewesen sein oder nicht, z.B. Vestalinnen, die konkrete Frau, die den Job gemacht hat, wurde geachtet.
Im Gegenzug waren von Ausbeutung (bei Frauen eben die körperliche) und Disziplinierung durch Gewalt nicht nur Frauen betroffen, sondern je nach Stellung in der Hierarchie, alle.
Das betrifft die Ebene des pragmatisch-historischen Hintergrundswissens.
Was macht nun ein Vergewaltigunstext bzw. politisch inkorrekte Texte (für all jene Studenten, die sich mit der feministischen Problematik gar zu schwer tun) nun so problematisch? Vermutlich die facheigene Legitmation: Texte ausgewählt und Autoren gelesen werden sollen solche, die das menschlich – überzeitliche thematisieren, eine existenziell Erfahrung ermöglichen, den anthropologischen Kern (und damit den unabänderlichen Kern des Menschseins )abbilden, die einen existentziellen Transfer erlauben (also Parallelen finden lassen zum Schülerdasein).
Eine unhinterfragte Lektüre mit diesem Fachideal würde das, was damals schon „nicht ganz so wunderbar war“, als unabänderlich befestigen und in unserer heutigen Gesellschaft wiederholen.
Auf diesen reflexiven Abstand fordernden Lerngegenstand, und der erforderlichen klaren Formulierung, dass es einen Unterschied zwischen eskapistischer Fiktion und korrektem zwischengeschlechtlichem Umgang gibt, trifft zu guter Letzt ein junger Mensch, der sich in einem Entwicklungsstadium befindet, in dem er noch Orientierung sucht und nicht schon wieder Abstand, der sich mit einem Gegenstand motiviert befassen soll, und nicht bereits gleich wieder reflexiv distanzieren. Der genau das sucht, was das Fachideal bietet.
Erste Konsequenz: Solche Text darf man jungen Menschen, die ihren aufsaugenden und verinnerlichenden Lesegestus noch nicht als solchen reflektieren und zum Inhalt keine gewohnheitsmäßig distanzierte Haltung haben (das würde ja auch der Lesefreude und -motivation abträglich sein und geistige Arbeit erfordern ) nicht zum Lesen geben, wenn man interessiert ist, dass nicht-wiederholungswürde Mechanismen wiederholt geistige Träger finden.
Zweite Konsequenz: Man nimmt Abstand von der Fachlegitimation.
Meine Frage:
Welche anderen Antworten gäbe es auf diese Frage der Uni Regensburg?
Oder in Didaktikersprache: Was ist der Erwartungshorizont?