Johannes & Wittgenstein

Diskussionen zu den antiken Philosophen, ihren Ideen und ihrer Rezeption

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Johannes & Wittgenstein

Beitragvon Gabel » Mi 23. Aug 2006, 15:57

Evangelium S. Ioannis

1:3 omnia per ipsum facta sunt et sine
ipso factum est nihil quod factum est


L. Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung

1 Die Welt ist alles, was der Fall ist.

[...]

1.2 Die Welt zerfällt in Tatsachen


Interessante Parallele zwischen diesen beiden Weltaufbaubeschreibungen, oder? Zumindest wenn man bedenkt, dass man "Tatsachen" (Tat-Sachen! gemachte Sachen...) auch als "Fakten" bezeichnen könnte... Gibt es hier vielleicht einen Wittgenstein-Spezialisten, der weiß, ob diese Ähnlichkeit intendiert ist?
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Beitragvon juergen » Mi 23. Aug 2006, 16:04

Er wird den Text sicher gekannt haben, aber Wittgenstein kann doch eher dem Positivismus zugerechnet werden, da haben metaphysische Dinge wohl wenig Platz.
Gruß Jürgen

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Beitragvon Gabel » Mi 23. Aug 2006, 16:14

L.W., ibid.

6.52 Es gibt (meine Herv.) allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.

und zuvor:

6.44 Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.


Selbst in der Frühphase also keineswegs die totale Verneinung einer Mystik/Metaphysik (ich glaube das "Mystische" ist das Metaphysische von dem eingesehen wurde, das es "unaussprechlich" ist - also nicht der kantische Anspruch einer wissenschaftlichen Metaphysik).

"Dass sie ist, ist das Mystische." Ist das nicht auch genau das, was Johannes meint?
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Beitragvon consus » Mi 23. Aug 2006, 17:09

interessante beobachtungen, interessante fragen!

grundlegender unterschied in groesstmoeglicher kuerze:

johannes: „omnia“ = „panta“ = „kosmos“ (welt), d.h. die gesamtheit aller durch den logos = wort = gott aus dem nichts geschaffenen dinge dieser welt (creatio ex nihilo).

wittgenstein: anderer Weltbegriff (im tractatus logico-philosophicus): 1.13: „die tatsachen im logischen raum sind die welt“, 2.04: „die gesamtheit der bestehenden sachverhalte ist die welt“, sie zerfaellt also in tatsachen (1.2), die wiederum nichts anderes sind als das bestehen von sachverhalten (2). 2.01: „der sachverhalt ist eine verbindung von gegenstaenden (sachen, dingen).“

sehr gut der hinweis auf den schluss des tractatus:
6.52: „wir fuehlen, dass selbst, wenn alle moeglichen wissenschaftlichen fragen beantwortet sind, unsere lebensprobleme noch gar nicht beruehrt sind. freilich bleibt dann eben keine frage mehr; und eben dies ist die antwort.“

es bleibt also nichts mehr uebrig fuer das wissenschaftliche fragen. „die loesung des raetsels des lebens in raum und zeit liegt ausserhalb von raum und zeit“ (6.4312).

frage: knuepft hier die offenbarung, die religion, die metaphysik an? wir haben doch nach schopenhauer ein metaphysisches beduerfnis, das uns zu dem versuch verleitet, die in der empirie gegebene welt zu transzendieren...

fragen, fragen, fragen...

:shock:
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Beitragvon juergen » Mi 23. Aug 2006, 17:27

Ist schon zu lange her, daß ich über Wittgenstein was gelesen habe....

Aber wenn mich meine grauen Zellen nicht täuschen, dann hat gerade der Ausdruck des "zeigens" eine besondere Bedeutung bei ihm

Es ist eben ein Unterschied, ob etwas erkannt wird oder genauer sinnvoll ausgesagt werden kann, oder sich etwas zeigt.


Nachtrag:
1. GRENZEN DES SAGBAREN und das ZEIGEN

Im Vorwort zum TLP *2* sagt Wittgenstein, der ganze Sinn seines
Buchs sei es, dem Denken bzw. dem Ausdruck der Gedanken eine
Grenze zu ziehen. Die Grenzziehung erfolgt "in der Sprache
(...), und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn
sein." Wittgenstein operiert im TLP bekanntlich mit der
Unterscheidung zwischen dem, was (sinnvoll) gesagt werden kann,
und dem, was sich zeigen muß. Entsprechend seiner
bildtheoretischen Konzeption sprachlichen Sinns sind am Ende nur
empirische Sätze sinnvoll. Dies ändert sich in Wittgensteins
späterer Philosophie. Sprachlicher Sinn wird nicht mehr allein
an der Funktion des Abbildens festgemacht, es kommt eine
Vielfalt kommunikativer Bedeutungen sprachlicher Äußerungen in
den Blick. Das Thema, sinnvolle Rede von sprachlichem Unsinn
abzugrenzen, aber steht auch in Wittgensteins späterer
Philosophie im Zentrum. In den PU ist keineswegs alles sagbar.


Quelle: http://www.phil.uni-passau.de/dlwg/ws05/08-1-96.txt
Gruß Jürgen

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Beitragvon consus » Mi 23. Aug 2006, 18:18

:) sehr hilfreicher hinweis! gratias maximas!
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Beitragvon Gabel » Mi 23. Aug 2006, 19:18

juergen hat geschrieben:Es ist eben ein Unterschied, ob etwas erkannt wird oder genauer sinnvoll ausgesagt werden kann, oder sich etwas zeigt.


Nachtrag:
1. GRENZEN DES SAGBAREN und das ZEIGEN
Die Grenzziehung erfolgt "in der Sprache
(...), und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn
sein." Wittgenstein operiert im TLP bekanntlich mit der
Unterscheidung zwischen dem, was (sinnvoll) gesagt werden kann,
und dem, was sich zeigen muß.


Ja, das gebe ich zu - heißt das, das Mystische ist Unsinn ("Ohn-sinn"? Hieße das "Selbstzweck"?), aber keineswegs wertlos? Ich glaube nämlich (auch ich bin hier keineswegs tief eingearbeitet, aber wo kämen wir denn hin, wenn man immer schon alles wissen müsste...), dass Wittgenstein (und erst recht der späte, oder?) das Sinnkriterium keineswegs so unbarmherzig [;)] handhabt wie Hardcorepositivisten vom Schlag Carnaps ("A proposition is meaningful iff (d.h. if and only if) it is empirically verifiable.")

Und noch eine Anregung: Was, wenn man jetzt den Schritt vom logos zum verbum nicht mitmachte und sagte (mit Faust ;)) "im Anfang war der Sinn"? Dass der Sinn bei Gott ist, ließe sich ja noch mit der Wittgensteinschen Grenzziehung vereinbaren, aber nicht, dass er gleichzeitig der Sinn IST. Denn dann ließe sich von IHM ja sinnvoll reden, oder?
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Beitragvon juergen » Mi 23. Aug 2006, 19:25

Gabel hat geschrieben:sagte (mit Faust ;)) "im Anfang war der Sinn"?

Mit Faust kannst Du vieles sagen, aber nicht "im Anfang war der Sinn" ;-) denn das verwirft er ja wieder.

...Geschrieben steht: „Im Anfang war das Wort!“
Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muss es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Dass deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh’ ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!...
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Beitragvon Gabel » Mi 23. Aug 2006, 19:31

juergen hat geschrieben:
Gabel hat geschrieben:sagte (mit Faust ;)) "im Anfang war der Sinn"?

Mit Faust kannst Du vieles sagen, aber nicht "im Anfang war der Sinn" ;-) denn das verwirft er ja wieder.


Ja, ich weiß. Aber müssen wir das deshalb auch?

Von den Sachen auf der Rückseite meines "logos"-Vokabelkärtchens erscheint mir übrigens "Begründung" am SINNvollsten, denn dass Gott eine 1a Begründung ist, wird ja wohl niemand bestreiten. Aber ich denke, das ist eine andere Diskussion... ;)

EDIT: Und wenn im Anfang die Tat war, dann sind wir ja wieder beim "facere" und kommen über das vermutete indogermanische Präfix *mag- ("kneten") zum momentan grassierenden "Sinn machen" bzw. seinem rechtmäßigen Bruder "(to) make sense". Vielleicht sollte es doch heißen: "Im Anfang war die Knete"? Und Gott knetete die Knete (Luther: "Und GOtt der HERR machte den Menschen aus einem Erdenkloß..."), und Gott war die Knete... (Vorsicht: Ich befinde mich im Modus freier Assoziation...;))
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