Salvete iterum!
Nur den Iktus hervorzuheben ist genauso falsch wie ein metrischer Fundamentalismus, der auf den Versrhythmus völlig verzichtet.
Was da falsch ist, können wir kaum von unserem subjektiven, heutigen Standpunkt mit letzter Gewissheit bestimmen. Fest steht, man braucht auch als Deutscher den Iktus nicht, um einen Rhythmus hörbar zu machen - man muss nur ein wenig üben. Und natürlich verzichtet man nicht auf den Versrhythmus, wenn man auf den Iktus verzichtet - das ist viel zu sehr vom "germanischen Ohr" her gedacht. Der Versrhythmus ist schon da, wenn man die Quantitäten richtig spricht (inklusive Positionslängen etc.) - aber es ist eben kein Akzentrhythmus, sondern ein Quantitätenrhythmus. Natürlich muss man sich hier ein Stückweit von deutschen Hörgewohnheiten entfernen - und eventuell auch von langjähriger Lateinlehrer und -schülerpraxis, aber es geht
Im übrigen kommt es auch in modernen Sprachen immer wieder vor, dass in einem Lied oder Gedicht einzelne Wörter anders betont werden als in normaler Prosa, wie z.B. hier in der ungarischen Nationalhymne:
Einzelne Wörter ja (wobei nicht wenige Rezitatoren dann die abweichenden Wörter - als besonders hervogehoben - gegen den "Versrhythmus" sprechen), aber niemals mit solcher Regelmäßigkeit. Das darf man wohl als vollständig ausgeschlossen betrachten. Wenn wer ernsthaft einen Iktus fordern möchte, dann käme er kaum umhin, ihn in vielen Verstypen vollständig zu verlegen, etwa im Anapäst. Beispiel aus dem Thyestes des Seneca (V. 789-793):
Quo térrarúm superúmque poténs,
cuiús ad ortús noctís opacáe
decus ómne fugít, quo uértis itér
medióque diém perdís Olympó?
cur, Phóebe, tuós rapis áspectús?
Absurd! Wenn Iktus, dann so (und dann könnte man mit etwas Mühe sogar die Grammatiker für seine Position heranziehen):
cúius ad órtus nóctis opácae etc.
Auch hier ergeben sich noch mitunter widersinnig scheinende Betonungen, aber nicht so viele. Auch in der ersten (!) Hälfte des Hexameter findet regelmäßig ein Widerspruch zwischen Iktus und Wortakzent statt. Nichts spricht für den Iktus an diesen Stellen. Wer will, mag einen an denen postulieren, wo weit häufiger Akzente fallen, nämlich in der jeweils zweiten Versfußhälfte.
Denn: Wenn jemand an den Iktus glaubt, woher will er wissen, dass er dort liegt, wo wir ihn traditionsgemäß sprechen?
Aber: Weder im Anapäst noch im Hexameter benötigt man zwingend irgendeinen Iktus. Das Hörbeispiel sollte es gezeigt haben.
Noch eine weitere Literaturempfehlung (kann ich gerne als Pdf anbieten, weil es mir meine UB seinerzeit automatisch in dieser Form "lieferte"): Strohs (verzeih, Tiberis!) Aufsatz "Der deutsche Vers und die Lateinschule", wo Stroh zeigt, wie der Iktus in der Neuzeit mit viel Mühe in Deutschland - nachdem man erst versucht hatte, Positionslängen zu bilden und ähnliche, unserer Muttersprache nicht gemäße Metzchen - erfunden wurde (Tiberis würde vielleicht sagen "wieder erfunden").
Valete